Nachrichten von 1914 – 15. Juli: Verführer, Demagoge, Zarenfreund
Seit 1905 hat niemand in Russland so von sich reden gemacht wie Rasputin. Nun wurde auf ihn ein Attentat verübt. Ein Nachruf auf den Verbrecher.
Aus Petersburg telegraphiert unser Korrespondent: Der Priester Griori Rasputin, der sonderbare Heilige am russischen Zarenhof ist gestern nachmittag den Folgen des gegen ihn gerichteten Attentats nach der zweiten Operation erlegen, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Der Dolch der Mörderin Gussewa hatte den Darm an mehreren Stellen durchschnitten, so dass Blutvergiftung eintrat.
Rasputin ist eine Gestalt, die eine russischer Wedekind hätte werden können. Von Natur phantastisch, mit der Untätigkeit des Künstlertemperaments, die ihn, den Bauern und russischen Fast-Analphabeten, zum Mönch werden lässt, vollgespickt und geladen mit den Ahnungen und Empfindungen für Möglichkeiten, durchrauscht von einer purpurnen Sinnlichkeit, jagt er nach Glück, wird vom Glück gejagt, von seiner Natur gehetzt und wird kühn durch die Ergebnisse seiner Kraft, die ihm endlich über den Kopf wächst.
Er hat alles, was man Glück haben nennt; und da er nicht der geborene Verbrecher, sondern nur der geborene Abenteurer ist, und nichts um der Mittel willen tut, verschmäht er kein Mittel, ja, er sieht sie gar nicht. Er blickt nicht rückwärts, er wird vorwärts getragen, wie auf dampfenden Sonnenrossen.
Eine russische Natur, hatte er eine Anhängerschaft, die in seinem Namen sich als Sekte fühlte. Er war Statthalter himmlischer Mächte: Spiritist, Gesundbeter, ein Vertrauter der Zukunft, Verführer, Demagoge und Zarenfreund. Damen, Frauen, Weiber, Dirnen, sie alle sind ihm untertan; und doch ist all dies nur Mittel und Weg zu jeder klaffenden, abgründigen, lockenden Richtung. Macht oder Untergang.
Aera online ist die Simulation einer Live-Berichterstattung aus dem Jahr 1914. Das Magazin veröffentlicht Nachrichten, die auf den Tag genau vor hundert Jahren von den Menschen in Deutschland in ihren Zeitungen gelesen wurden. Drei historische Zeitungen wurden aus den Archiven gehoben und ausgewertet. Die Texte sind im Wortlaut erhalten, Überschriften und Kurz-Zusammenfassungen wurden teilweise modernen Lesegewohnheiten angepasst.
Das Projekt ist eine Kooperation der zero one film und der Leuphana Universität Lüneburg. taz.de kooperiert mit dem Magazin und veröffentlicht jeden Tag ausgewählte Nachrichten von 1914. Das gesamte aera online Magazin finden Sie hier.
Ein Bauer, halb Scharlatan, halb Gläubiger, skrupellos und ohne Hemmungen, ein Lüstling und ein Schwärmer, und doch ahnungslos in den Konsequenzen seiner Macht und mit jenem Schuss von Kindlichkeit, die dem Abenteurer das Flimmern und Leuchten des Genies verleiht: so sieht er in seiner Hand das Wohl eines unermesslichen Landes gleich einer Glaskugel, die unsichtbare Engel wanken, doch nicht zu Boden stürzen lassen. Und er selber braust dahin, wird getragen und weiß es nicht mehr: ist er ein Betrüger oder ist er ein Werkzeug - ? Ach, er war wohl ein Werkzeug in der Hand von Betrügern...
Eine großgewachsene, überragende Erscheinung (doch nicht mit breiten Schultern) in hohen Schaftstiefeln aus russischem Kaftan. Über die hageren Backen treten die Backenknochen aus mongolisch und gut geschnitten hervor, was das Raubtierartige unterstreicht und doch dem Gesicht etwas fantastisches verleiht; auf den Lippen ein hinterhältiges gieriges Kräuseln voller Vorfreude, und ein unheimlicher Blick aus den großen, breit geschlitzten und umflorten Augen. Heiligenbild, Zauberer und Verführer!
Eine gelenkige Hand mit spielenden Sehnen und Nerven; eine russische, tiefbaritonale warm vibrierende Bruststimme, einschmeichelnd und brünstig aufschäumend. Auch großmütig, verschwenderisch und chevaleresk war er, wie Glücksritter eben sind. So war diese genialische purpurdunkle Bauernnatur wie kein zweiter Mensch dazu geschaffen, die Frauen an sich zu reißen, sie kopflos zu machen. Die ganze Skala von Mitteln stand ihm zu Gebote, durch die der Mann in der Weiblichkeit raubend wühlt.
Die Fremdartigkeit der äußeren Erscheinung, die die Frauen als unheimlich empfinden, die ihre Neugierde und Einbildungskraft aufpeitscht; ein Klang in der Stimme, der werbend tief eingreift, um nicht locker zu lassen, ein affektisches Gebähren, das Leidenschaft und Kraft verbürgt; das Hineinziehen der Frau in die politische Intrige, das Erhöhen ihren Machtgefühls, ihrer Hasardlust und ihrer dunklen Gier, am Schicksal zu hantieren: alle diese Mittel wandte er ohne Berechnung an, und darin lag die Kraft seiner Natur.
Es geht nicht an, jetzt leichtfertig alle Gerüchte von seinen Abenteuern mit hochgestellten Damen als wahr und dokumentarisch wiederzugeben. Jedoch das bleibt unwidersprochen bestehen, dass er durch die Schlafzimmer zahlreicher vornehmer Frauen mit seinen Bauernstiefeln zu den Kabinetten schritt, wo er seine der kläglichen Kunst des Schreibens schier unkundige Hand auf schicksalsbeschwerte Dokumente legte.
Seinem interessanten Äußern, dem Nimbus seines missionsduseligen Priestertums, dem Geheimnisvollen seiner okkulistischen Funktionen entspricht auch dieser ganze Mordanschlag von der Hand einer exaltierten eifersüchtigen Weibes. Man bedenke: dieser geheimnisvolle Bauer, der bis in den Zarenpalast gedrungen ist, die höchste Macht im Lande erreicht hat, von Reichtum, Glanz und Legenden umstrahlt wird, kommt in sein sibirisches Heimatdorf, lies die Messe und empfängt den Dolchstoß (der Dolch soll noch vergiftet gewesen sein!) einer Rächerin.
Ist das nicht alles Vorstadt, Kino, Hintertreppenromantik, so abseits von jeglichem „Geschmack“? Aber dennoch ist alles von einer solchen Ganzheit, und in dem Kerl selbst steckt so viel Kraft, dass er zu einer bedrohlichen Figur emporwächst, nicht weil er etwas anstiftet, sondern weil er damit so viel anstiften kann.
Und doch ist er nichts weiter als ein Lakei gewesen, dämonisch, faszinierend, aber doch nur ein Lakai in diesem klassischen Lande des Lakeientums. Lakai seines Selbstherrschers, der Lieblingslakai, der Macht über seinen Herrn besitzt - was in der Geschichte vorkommt. Und priviligierte Oberlakaien, Schmarotzer und unermüdliche Hofintriganten, die großen Männern Russlands, antichambrieren bei ihm, dem „Bauernlümmel“, den sie, die Goldgestickten, im Innersten verbrachten. Die höchsten Würdenträger liegen vor ihm auf dem Bauch.
Und selbst Witte, der vielgeübte Sänger des Mitteleuropäertums, der Verächter russischer Barbarei, der Grollende, den die Lorbeeren der eigenen Vergangenheit nicht schlafen lassen, auch er wendet sich an den hergelaufenen Abenteurer. Der möge sich doch am Gedächtnis des Zaren rütteln, ob er vielleicht in der Not an Männern es noch einmal mit ihm versucht, noch ein einziges Mal! Witte bei Rasputin, das ist im Grunde das Amüsante an diesem heutzutage so unwahrscheinlichen tragischen Schwank.
Und doch hat Rasputin mit seiner Macht nichts anzufangen gewusst. Bisweilen gemahnt er an Siegfried, der Ring und Tarnkappe wahrte, unkundig der Zaubermacht, die er errungen. Vielleicht war er noch berauscht. Ach nein, er war wohl nur ein „Bauernlümmel“, dem nur der aufhellende Blitz im Geiste fehlte, um Konsequenzen zu ziehen, kühn, äußerst phantastisch. Ein glücklicher Boden ist Russland für solche Draufgänger. Gläubigkeit, Durst nach Erlösung harren allenthalben. Aber es ist Russlands Geschick, mit großen Mitteln Urwinziges zu erzielen. Schnaufende, sprengende Feuerrosse ermatten in tristen Sackgassen.
Und doch! Nur Männer von Rasputins Geschlecht können Russland zum Glücke führen. Nicht solche blühende, glühende Scharlatans, die im tiefsten Innern tiefrussisch indifferent sind, wohl aber menschlich fanatische, religionsgefestigte Idealisten. Nicht dilettantische Europa(sere): keine Administration, keine Reformen, keine Revolution nach europäischen Lehrbüchern und von europäischen Meistern. Nur russische, bäuerliche Vollbluttiere, dampfend, roh, strahlend und unverbraucht und alles zur Blüte wendend.
Über Rasputins Leben telegraphiert unser Korrespondent aus Petersburg. In den letzten Jahren hat in Russland kaum ein Mensch soviel von sich reden gemacht wie Rasputin, dessen Leben und Erfolge ganz beisspiellos in der russischen Geschichte dastehen und gewissermaßen als ein Zeichen der Zeit betrachtet werden können. Im Jahre 1905 tauchte Rasputin zum erstenmal in der höheren Petersburger Gesellschaft auf, und seit jener Zeit ist er zu einer skandalösen Berühmtheit gelangt.
Er erschien damals mit einem Brief der Gräfin Ignatjew beim Bischof Theophan, dem damals allmächtigen Mönch und Vertrauten des Zaren. Er machte die Bekanntschaft des Paters Joan von Kronstadt und erfasste als schlauer Bauer sehr bald den mystischen Zug gewisser Kreise. Dadurch erlangte er in wenigen Wochen einen gewaltigen Einfluss in jenen Kreisen, die jedem gewöhnlichen Sterblichen für immer unzulänglich sind. Seine religiös-philosophischen Lehren, die auf eine Reinigung der Welt von der Sünde hinausliefen, sicherten ihm viele Anhänger und warme Verehrer in höchsten Kreisen.
Seine Tätigkeit nahm jedoch bald einen verbrecherischen Charakter an. Bischof Theophan berief ein Schiedsgericht das Rasputin zur Verantwortung zog, weil er mit Damen der höchsten Kreise öffentliche Badeanstalten besucht und dort durch sein Benehmen Anstoß erregt hatte. Rasputin gelang es jedoch, sich durch die Behauptung zu reinigen, dass er auf diese Weise die Stärke seines Charakters prüfe (!)
1909 fand dann unter dem Vorsitz Theophans ein zweites Schiedsgericht statt, um über Rasputin zu beraten. Es wurde festgestellt, dass er der Sekte der Chlysten angehört. Theophan legte ihm eine Jahresbuße in einem Kloster auf, von der aber der lebenslustige Rasputin nichts wissen wollte. Theophan, der Bischof von Wogen und der Mönch Iliodor sprachen darauf den Fluch gegen ihn aus. Alle drei hatten jenen Schritt schwer zu büßen, denn Rasputin klagte gegen sie, und sie wurden ihrer Würde entkleidet und selbst in fernliegende Klöster verbannt. Eine Zeit lang hatte es den Anschein, als wenn der Stern Rasputins im Niedergang begriffen sei, doch leuchtete er nach kurzer Pause heller als je. Jetzt endlich hat ihn das Volksgericht ereilt. Das Volk hat erkannt, dass Rasputin kein Heiliger war, sondern ein Verbrecher.
Quelle: Berliner Tagblatt
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