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Nachlass von Sarah KirschHinter ihrer Sprache versteckt

In ihren Empörungen genau, in ihren Verweigerungen knallhart: „Juninovember“, die postumen Tagebücher einer großen Autorin.

Sarah Kirsch sitzt vor dem Elbedeich in Otterndorf. Bild: dpa

Sarah Kirsch hat nicht nur über zwanzig Gedichtbände und mehr als zehn Prosabände veröffentlicht, sie hat auch akribisch Tagebuch geführt, seit Mitte der sechziger Jahre jeden Tag. Aus dem Nachlass der im Mai 2013 verstorbenen Dichterin wurden jetzt bei DVA die Aufzeichnungen aus den Monaten September 2002 bis März 2003 veröffentlicht.

„Juninovember“ ist ein Winterbuch, da darf man sich vom Titel nicht täuschen lassen. Es ist fast immer kalt, Nebel liegt über der Landschaft, „Nebul“ schreibt Kirsch. Die Tage heißen Mohntach oder Montauk, Dienst, Mistwoch, Donner, Frei und Sams. Die Monate Septembrius, Octupus, Novembrius, Dezembrius, Jaguar, Zebra, Nerz.

Der Kalauer ist ein heikles Feld, das Sarah Kirsch gnadenlos beackert. Rendsburg nennt sie „Rendsborough“, der Reiskocher mit dem „Chineser-Reis“ wird zum „Reichstopp“, es gibt eine Blitzeiswarnung für „Schließlich-Holzbein“.

Das kann nicht jeder lustig finden, doch bleibt die Sprache das Aufregende an diesem Band, ist sie das eigentliche Ereignis, denn passieren tut nicht allzu viel in Tielenhemme, dem Dorf in Dithmarschen, wo Sarah Kirsch die letzten dreißig Jahre lebte.

Das Buch

Sarah Kirsch:„Juninovember“. DVA, München 2014, 208 S., 19,99 Euro

Jeder Tag beginnt mit dem Wetter

Die Mülltonnen müssen rausgestellt und wieder reingeholt werden. Die Treppe muss freigeschaufelt werden, damit der Briefträger, der die Buchpakete liefert, nicht hinfällt.

Es wird viel ferngesehen. Das Weihnachtsfest 2002 liest sich wie eine Programmzeitschrift.

Es werden „Bürokratien erledigt“, es wird aus dem Fenster gesehen, Spaziergänge werden gemacht. Ein neuer Kühlschrank wird geliefert, die Katze Anna Blume stirbt.

Jeder Tag beginnt mit dem Wetter, den Beschreibungen der Natur, ansonsten dringt die Außenwelt hauptsächlich über das Fernsehgerät, die „Glasfresse“, herein. Wahrhaftig kann sich Sarah Kirsch empören über Kollegen: „Dieser uffgeblasene Biermann, der Lehrer der Nation“, über den Kulturbetrieb: „Heute nur Augstein, der Alte ist heute früh gestorben … Hier will jeder was zu Augstein sagen, beweihräuchert sich sölber. Die Schirrmachers alle“ und über den nahenden Irakkrieg: „Die amerikanischen Regierenden wollen die Sicherheit des Nahen Ostens durch eine neue Ordnung herstellen, das traun sie sich zu. […] Strohdumm und sehr gefährlich.“

Bloß nichts preisgeben

taz am Wochenende

Härtere Strafen, Internetzensur, Adoptionsverbot für Homo-Paare – mit dem Argument, es gehe um das Wohl der Kinder, wird Politik gemacht. Aber wie ernst wird das Kindeswohl wirklich genommen? taz.am wochenende vom 3./4. Mai 2014 . Außerdem ein Porträt Sigmar Gabriels. Der Wirtschaftsminister setzt das Werk Peter Altmaiers fort und erdrosselt langsam die Energiewende am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Ansonsten lässt sie die Welt draußen, lehnt Lesungen, die ihr immer schon ein Gräuel waren, ab. „Ob ich in Leipzig zur Buchmesse läse. Nö!, hab ich gesagt. Um Gottes Wilhelm Buchmesse und Interviews und Ossiland.“

Es stimmt ja. Auf der Buchmesse tummeln sich die Autoren, die sich tummeln müssen, die noch mittendrin sind im Sich-verkaufen-Müssen. Sarah Kirsch hat das nicht mehr nötig, und sie genießt es, bleibt auf dem Sofa, liest sich durch die Welt, bevorzugt durch Japan, und manchmal lobt sie auch.

Von Judith Hermann ist sie beeindruckt, von Kawabata kann sie nicht genug bekommen, nachdem sie alles von ihm gelesen hat, sagt sie, kann sie sich erschießen. Verliebt ist sie in den Reiseschriftsteller Nicolas Bouvier: „Wirklich wahr, was für einen schoinen Kopp der hat.“

Über ihr eigenes Schreiben verliert sie dagegen kaum ein Wort, und wenn, kommt diese Tätigkeit einer Buchhaltung gleich. „Hab schon an mein Laptop gesessen und Wörter verschoben.“ Ist das bescheiden oder doch allzu routiniert, fragt man sich. Es scheint, als wollte Sarah Kirsch nichts preisgeben über ihr Schreiben. „Gelesen und wat uff meine Festplatte gedonnert.“ So redet man, wenn man nicht drüber reden will.

Das ist so überraschend wie enttäuschend, poetologisch taugt dieser Band überhaupt nicht.

Das Sprachprinzip Kirsch

Und doch hat das etwas sympathisch Konsequentes. Sich dem Sprechen über das eigene Werk zu verweigern gehört zu den Dingen, die sich viele Autoren wünschen, aber kaum trauen. Sarah Kirsch war da knallhart. „Es waren gestern bei der Lesung alte Damen in der ersten Reihe, die unbedingt diskutieren wollten. Ohne mir! Hab ich gesagt, wo kommen wir denn da hin! Also wirklich.“

Tagebücher von Autoren sind keine Tagebücher, es ist bloß ein anderes Genre, in dem sie schreiben. Wer Tagebücher schreibt mit dem Wissen um die spätere Veröffentlichung, möchte vieles loswerden und vieles geheim halten. Es geht darum, die Kontrolle zu bewahren über das Bild, das bleiben wird. Jedoch liegt in der Kontrolle immer die Gefahr der Langeweile, und diese zu bannen gelingt auch Sarah Kirsch nicht vollständig.

Vielleicht liegt es am Fehlen des Persönlichen, der Fragen, Zweifel und Erinnerungen. Vielleicht liegt es sogar am Ton. Der einzigartige Kirsch-Ton. Poetisch, rau, die (Ab-)Wendung ins Komische. Man hat das alles in ihren Büchern schon gelesen, genauso, manchmal Wort für Wort.

Ein andere Dichterin, Elke Erb, sagte einmal: „Wer seinen Ton gefunden hat, fängt an, sich selbst zu kopieren.“

Sarah Kirsch versteckt sich fast hinter ihrer Sprache, es ist das Sprachprinzip Kirsch, das sie meisterhaft beherrscht. Das darf und soll so sein, doch damit allein lässt sich das Genre Tagebuch nicht behaupten. In einem der knappen Gedichte, die der Band enthält, heißt es:

„Erinnere oh erinnere

Dich was du

Vergessen wolltest.“

Ja, bitte, genau das

und mehr davon.

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