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■ US-Gericht hält Internetzensur für verfassungswidrigNachhilfeunterricht in Aufklärung

Deutsche Politiker aller Parteien müssen nachsitzen. Seit Monaten wiederholen sie bei jeder Gelegenheit, das Internet dürfe kein rechtsfreier Raum sein. Gerade hier, meinen sie in bedrückender Eintracht, müsse die Freiheit der Rede Grenzen haben, gerade weil dieses neue Medium keine mehr kennt, weder politische noch kulturelle.

Das Bundesgericht von Philadelphia hat gestern anders entschieden, zunächst gegen die amerikanischen Konservativen, die mit dem lange umstrittenen „Communication Decency Act“ alles im Internet unter Strafandrohung stellen wollten, was ihren Vorstellungen von Moral und Familienglück widerspricht. Mit ihnen ist auch Bill Clinton gescheitert, der das Gesetz unterschrieb, und ebenso der deutsche Christdemokrat Jürgen Rüttgers, der deutsches Strafrecht, etwa gegen Kinderpornographie oder Volksverhetzung, so lange umformulieren will, bis es auf das Internet anwendbar wird. Auch ihm hat das Gericht in Philadelphia Sätze ins Stammbuch geschrieben, die gar nicht amerikanisch sind. Sie stammen vielmehr aus dem Kern europäischer Aufklärung. So schreibt der Bundesrichter Stewart Dalzell, das beklagte Gesetz sei eine von der Regierung auferlegte, auf den Inhalt bezogene Beschränkung der freien Rede. Vor allem das zweite findet er unzuläßig, denn weder seien mit Begriffen wie „unanständig“ oder „offensichtlich verletzend“ Verfassungsgüter betroffen, noch habe die Regierung diese ihre Begriffe hinreichend definiert.

Wie auch hätte sie das tun können? Mit welchem Recht dürfte sie in diesen Raum eingreifen, der alles andere als gesetzlos ist? Im Internet, heißt es in der Begründung weiter, habe sich eine niemals endende, weltweite Diskussion entwickelt. Gerade dieses Massenmedium, an dem sich Personen so aktiv beteiligen könnten wie an keinen anderen, bedürfe des allerhöchsten Schutzes durch die Regierung.

Die Allianz der Kläger, die von traditionellen Bürgerrechtsverbänden bis zu Computerkonzernen reicht, spricht von einem historischen Tag. Hoffentlich behält sie recht. Noch hat das höchste Gericht der Vereinigten Staaten nicht entschieden, das amerikanische Zensurgesetz ist nur aufgeschoben. Und Abertausende karrieresüchtige Sesseldrücker in Ministerialbüros möchten es nur zu gerne anwenden, sinngemäß und durch ihre Lokalsitten verschärft. Seit gestern steht wieder fest, woran sie zu messen sind: Am Recht der Redefreiheit, dem einzigen, das Regierungen im Internet zu schützen haben. Niklaus Hablützel

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