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Archiv-Artikel

„Nachhaltiger Aufschwung ist nicht in Sicht“,sagt Rudolf Hickel

Wegen der Dominanz der USA für die Weltwirtschaft und der Selbstbeschränkung der EU ist die Konjunktur fragil

taz: Herr Hickel, die Trendwende ist geschafft – sagt Wirtschaftsminister Wolfgang Clement. 2004 wuchs die deutsche Wirtschaft um 1,7 Prozent. Kommen jetzt die Jobs?

Rudolf Hickel: Nein. 2004 ist auch die Arbeitsproduktivität um 1,3 Prozent gestiegen, die Arbeitszeit stieg durch die Feiertage, die auf Sonntage fielen, um 1,5 Prozent. Da bedarf es keiner neuen Arbeitsplätze. Die Arbeitslosigkeit bleibt auf hohem Niveau.

Immerhin stagniert das Wachstum nicht mehr. Und für 2005 sagt etwa das Berliner DIW sogar voraus, dass das BIP um 1,8 Prozent steigt – ohne Feiertagseffekt.

Es gab bei den Prognosen noch nie so große Abweichungen wie bei denen für 2005. Das DIW liegt weit über den Schätzungen der anderen Institute. Ich sehe keinen Grund für diesen Optimismus.

Woher kommt diese Unsicherheit bei den Experten?

In den letzten Jahren hat die Zunft Riesenirrtümer fabriziert. Die Prognosen sind schlechter geworden, weil es keine Modelle gibt, die die zunehmenden Instabilitäten etwa auf den Finanz- und Devisenmärkten adäquat abbilden. Vor allem die exogenen Daten, die Annahmen über den Ölpreis und den Dollarkurs, sind kaum mehr vorhersagbar – aber für die konjunkturelle Entwicklung mitentscheidend.

Spielen politische Opportunitäten auch eine Rolle?

Unmittelbar sicher nicht. Aber psychologische Faktoren rücken auch bei den Konjunkturexperten und Politikberatern mehr ins Blickfeld: Ich unterstelle dem seriösen DIW nicht, dass es politisch lieb Kind machen möchte. Aber ich denke, dass es mit seiner Vorhersage auch Optimismus ausstrahlen will – vielleicht mit der Idee, dass sie zu einer Selffulfilling Prophecy werden könnte.

Was ist Ihre Prognose?

Ich habe bei meinen Vorhersagen natürlich die gleichen Unsicherheiten wie die Kollegen. Aber 1,8 Prozent Wachstum halte ich auf jeden Fall für überschätzt. Angesichts der weltwirtschaftlichen Lage rechne ich eher mit weniger als 1 Prozent. Denn wie 2004 wieder gezeigt hat, ist die deutsche Wirtschaft ungebrochen von der Auslandsnachfrage abhängig, sie stieg um 8,2 Prozent. Die Binnennachfrage dagegen ging zurück. Die Konjunktur ist tief gespalten.

So schlecht sieht die weltwirtschaftliche Entwicklung doch gar nicht aus: Die OECD sagt den USA für die nächsten zwei Jahre Wachstumsraten von 3,3 und 3,6 Prozent voraus, China und Indien sind weiter auf Importe angewiesen.

Alle Experten sind sich einig, dass sich die Exportzuwächse halbieren werden. Der Welthandel schwächt sich insgesamt ab. Der größte Risikofaktor ist die US-Ökonomie.

Sie meinen das Leistungsbilanzdefizit?

Ja, die Importe in die USA übersteigen in diesem Jahr die Exporte um 660 Milliarden US-Dollar, das sind 5,5 Prozent des BIP. Zur Finanzierung dieses Defizits sind sie auf ständigen Kapitalzufluss aus dem Ausland angewiesen. Das kann nur so lange funktionieren, wie die Investoren und Anleger ihr Vertrauen in die USA nicht verlieren. Wenn sie ihr Geld massenhaft zurückzögen, würde sich die Weltwirtschaft am Abgrund einer Krise bewegen.

Trotzdem wird darüber gestritten, ob es sinnvoll ist, dass die USA ihr Defizit abbauen?

Aus gutem Grund. Ökonomisch gesehen kann man im Moment nur froh sein, dass der Importsog in die USA so groß ist. Davon profitiert auch Deutschland indirekt und direkt. Wenn die Weltwirtschaft nicht massiv gefährdet werden soll, kann das US-Defizit seriös nur abgebaut werden, wenn an anderer Stelle in der Welt wieder Expansionskraft entsteht. Deswegen ist die EU zusammen mit der Europäischen Zentralbank in der Pflicht. Wenn wir den USA den Spielraum geben wollen, ihre Leistungsbilanz auszugleichen, brauchen wir eine Expansion der europäischen Wirtschaft.

Gibt es politische Möglichkeiten, Europas Wirtschaft anzukurbeln?

Wenn man sich selbst beschränkt, nicht. Die EZB macht alles falsch, was man falsch machen kann. Sie unternimmt nichts gegen die brutale Entwicklung der Eurostärke – weder mit zinspolitischen Maßnahmen noch mit Interventionen. Sie schafft keine Voraussetzungen für einen Wachstumsimpuls. Und die Finanzpolitik ist im Stabilitäts- und Wachstumspakt gefangen. Wenn man die negativen Folgen eines Abbaus des Leistungsbilanzdefizits in den USA vermeiden will, muss man jetzt antizyklisch operieren. Wir wären gut beraten, den Stabilitäts- und Wachstumspakt schlicht zu vergessen und auf eine koordinierte, auf Expansion ausgerichtete Finanzpolitik zu setzen.

Kurz gesagt: Mit der Gesamtwirkung ihrer derzeitigen Geld- und Finanzpolitik zwingt die EU die USA, ihr Leistungsbilanzdefizit nicht ab-, sondern sogar auszubauen?

Kurioserweise stimmt das. Denn wenn der Importsog in die USA abnehmen und durch keinen anderen ersetzt würde, wäre auch ein Wachstum von 1 Prozent für dieses Jahr noch viel zu hoch gegriffen.

INTERVIEW: BEATE WILLMS