Nach der türkischen Präsidentschaftswahl: Fantastischer Zugewinn für HDP
Bei der Verabschiedung einer neuen Verfassung wird die Partei des kurdischen Kandidaten Demirtas das Zünglein an der Waage sein.
ISTANBUL taz | „Wir sind sehr zufrieden. Wir haben alles bekommen, was wir erwarten konnten“, sagte Saruhan Oluc, einer der Wahlkampfmanager Selahattin Demirtas’ am Montag der taz. „Der Zugewinn von 6 auf fast 10 Prozent ist fantastisch.“
Tatsächlich sind die Anhänger des kurdischen Kandidaten an diesem Montag wahrscheinlich die Einzigen, die sich rundum über das Ergebnis der Präsidentenwahl freuen. Während Sieger Erdogan seine eigenen Erwartungen klar verfehlte und das säkulare Lager mit seinen Nichtwählern hadert, haben Demirtas’ Leute ihr Potenzial weitgehend ausgeschöpft.
„Endlich ist es uns gelungen“, so der Kandidat in einer ersten Stellungnahme, „die ethnischen Grenzen zu sprengen und in einem relevanten Umfang auch Stimmen aus der türkischen Linken zu bekommen.“ Saruhan Oluc untermauert das mit Zahlen: „In Istanbul, in Izmir und in Ankara, in den westlichen Großstädten also, konnte die HDP ihre Stimmen verdoppeln. Neben Kurden haben uns als dort auch viele Türken gewählt.“
Gewinner: Laut dem türkischen Staatssender TRT haben mehr als zwei Drittel der türkischen Wähler in Deutschland bei der Präsidentenwahl für Erdogan gestimmt. Damit kam der islamisch-konservative bisherige Regierungschef auf fast 69 Prozent der Stimmen.
Verlierer: Erdogans Herausforderer Ekmeleddin Ihsanoglu, den die sozialdemokratisch-kemalistische CHP zusammen mit der nationalistischen MHP aufgestellt hatte, erhielt knapp 24 Prozent. Selahattin Demirtas von der prokurdischen HDP kam auf 7,4 Prozent.
Wahlbeteiligung: Rund 2,8 Millionen Auslandstürken weltweit – darunter 1,4 Millionen in Deutschland – hatten erstmals die Möglichkeit, außerhalb ihres Heimatlandes abzustimmen. Aber nur rund 8,3 Prozent der Wahlberechtigen machten von dieser Möglichkeit Gebrauch. (dpa, taz)
Wenn Demirtas und seine Demokratische Volkspartei HDP, zu der neben der kurdischen Friedens- und Demokratiepartei BDP auch einige kleinere türkische linke Gruppen gehören, diesen Erfolg fortsetzen wollen, steht ihnen in den kommenden Monaten eine schwierige Gratwanderung bevor. Bislang war eine Allianz zwischen der größten nationalen Minderheit und türkischen Linken immer daran gescheitert, dass die Kurden ihr Übergewicht in der Allianz letztlich doch dafür einsetzten, zuerst einmal rein kurdische Interessen durchzusetzen.
Das zeigte sich ganz deutlich im letzten Sommer: Während die gesamte türkische Linke am Gezipark gegen Erdogans Polizei anrannte, hielten sich die Kurden zurück, weil sie den Friedensprozess mit der PKK nicht stören wollten. Das hat den Protest geschwächt und dazu geführt, dass es bei den Kommunalwahlen im März in Istanbul keine Allianz zwischen Kurden und Säkularen gab.
Mittelfristige oder kurzfristige Erfolge
Jetzt kommt auf Demirtas eine noch größere Herausforderung zu: Er kann entweder versuchen, mittelfristig in der Türkei eine echte linke Partei jenseits ethnischer Grenzen aufzubauen; oder er kann bei den kommenden Gesprächen mit Erdogan und seiner AKP auf kurzfristige Erfolge für die Kurden setzen.
Die Stimmen der HDP werden bei der Verabschiedung einer neuen Verfassung das Zünglein an der Waage sein. Voraussichtlich wird Erdogan den Kurden mehr Rechte auf regionaler Ebene anbieten, damit sie im Gegenzug einer Präsidialverfassung zustimmen, die ihn zum Alleinherrscher auf Zeit macht.
Mit einem solchen Deal aber würde die HDP sofort die Unterstützung der türkischen Linken verlieren. Zudem wären die Aleviten, die größte religiöse Minderheit des Landes, die traditionell für die CHP stimmt und bei der Präsidentenwahl für Ekmeleddin Ihsanoglu votierte, auch künftig nicht bereit, mit den Kurden zusammenzuarbeiten. Auch säkulare und progressive Kurden blieben gespalten – was letztlich die Garantie für die kommenden Wahlsiege der AKP wäre.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken