Nach der Schneeschmelze: Die Wegwerfgesellschaft taut auf
Der Dauerfrost hat Müll und Dreck auf den Straßen wochenlang konserviert. Nach dem Tauwetter ist die Verschmutzung unübersehbar. Senat und BSR versprechen, den Berlinern hinterherzuräumen.
Für Ethnologen ist die Stadt gerade ein Paradies. Denn der monatelange Winter hat das Verhalten der Berliner konserviert. Die Schneeschmelze bringt es nun überdeutlich an den Tag: Berge von Zigarettenkippen vor Hauseingängen zeugen zum Beispiel untrüglich von einem dahinterliegenden Großraumbüro mit Rauchverbot. Und die auffällige Ansammlung von Pappbechern samt Plastikdeckeln vor einer Kirche in Mitte erinnert an ein Filmteam, das dort Ende Januar rund um die Uhr drehte - und seine leeren Kaffeebehälter einfach in den Schnee fallen ließ.
Ein Spaziergang vom Neuköllner Norden bis durch den Görlitzer Park enthüllt ein anderes Eis-Rätsel. Die selbst für diese Gegend unglaublich hohe Anzahl feucht glänzender frischer Hundehaufen steht in keinem Verhältnis zu den real vorhandenen Hunden. Ein munteres Kleinhundfrauchen klärt auf: Die Haufen seien gar nicht alle frisch. Nur gut frischgehalten! Wie Tiefkühlkost hatten die Schneemassen sie so perfekt konserviert, dass nun nur noch ein Petersiliensträußchen fehlte, um wie ein "Anrichtevorschlag" auf einer entsprechenden Verpackung auszusehen. Doch Vorsicht - der perfekte Schein trügt: Wie aufgetaute Erdbeeren sieht die Scheiße zwar wohlgeformt aus, ist aber weich wie Nutella.
An diesem Mittwoch startet der "Aktionsplan Frühjahrsputz" der Berliner Stadtreinigung (BSR). Dabei sollen weitere 350 Arbeitslose eingesetzt werden, wie BSR-Chefin Vera Gäde-Butzlaff sagte. Sie sollen Hundekot, Silvesterüberreste und Rollsplitt einsammeln. Anfang April soll alles sauber sein.
Mit den 1.650 bereits jetzt helfenden Arbeitslosen und den BSR-Mitarbeitern stünden 3.600 Einsatzkräfte zur Verfügung. Die BSR-Ausgaben für Winterdienst und -grundreinigung betrügen 34,8 Millionen Euro - ursprünglich waren 18,3 Millionen Euro geplant.
Wie der Regierende Bürgermeister betonte, haben Berliner einen Anspruch auf eine saubere Stadt. "Ich bitte aber um Verständnis, dass dies nicht per Knopfdruck passieren kann", so Wowereit. Für die Zukunft seien Überlegungen nötig, wie ein Winter wie dieser vorbereitet werden könne. (dpa)
Das umgekehrte, gleichwohl nicht weniger bedenkliche Phänomen - dass Müll durch das Auftauen des Eises aus dem Blickfeld verschwindet - ist dieser Tage am östlichen Ende des Landwehrkanals zu beobachten. Die BerlinerInnen haben das wochenlang zugefrorene Gewässer im Bezirksdreieck Kreuzberg-Neukölln-Treptow zur Müllentsorgung genutzt. Böllerresten, Sekt- und Bierflaschen an Silvester folgten ein knappes Dutzend Weihnachtsbäume.
Gut möglich, dass die Werfer auf diese Weise die Festigkeit der Eisdecke testen wollten. Denkbar auch, dass die Kanal-Anrainer der BSR eine zeitnahe Entsorgung des Nadel-rieselnden Grünzeugs um Dreikönig nicht zutrauten - schließlich war das Landesunternehmen da bereits mit dem Schneeschippen überfordert.
Bald fanden auch Computer- und Fernsehbildschirme, Aldi-Einkaufswagen (mit und ohne Räder), ja sogar Matratzen und halbe Fahrräder ihren Weg aufs Eis. All dies versinkt nun im braun-trüben Wasser und entzieht sich der Zuständigkeit von BSR, Hausbesitzern und sonstigen üblichen Verdächtigen. Im Sommer wird wohl wieder das Wasser- und Schifffahrtsamt mit seinen Kähnen vorbeischippern und den Schrott rausangeln. Oder wir hoffen einfach, dass ihn die Fische aufessen. Wenn die nicht längst an unserm Müll erstickt sind. AWI, GA, SUG
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