Nach der Großdemo gegen Akws: Hochspannung in den Parteizentralen
Nach den Anti-Atom-Protesten vom Wochenende kündigt die Opposition geschlossenen Widerstand an. Die Regierungspolitiker giften zurück.
BERLIN dpa/dapd/taz | Die Großdemonstration gegen Atomkraft hat auch die politische Auseinandersetzung unter den Parteien neu befeuert. Zahlreiche Oppositionspolitiker, die am Samstag in Berlin gegen Atomkraft demonstrierten, kritisierten die Atompolitik der schwarz-gelben Bundsregierung scharf und kündigten Widerstand auf der Straße und vor dem Bundesverfassungsgericht an.
SPD-Chef Sigmar Gabriel sagte am Samstag, Angela Merkel sei eine Kanzlerin der Konzerne geworden. "Wer nachts vier Konzernbossen 100 Milliarden schenkt und dann auch noch Geheimabsprachen über die Sicherheitsrabatte für alte Atommeiler trifft, der muss sich nicht wundern, wenn er die Menschen auf die Straße treibt." Die Proteste in Berlin seien erst der Anfang. "Ich fürchte, dass es nicht nur friedliche Auseinandersetzungen geben wird", sagte Gabriel.
Die Grünen-Vorsitzende Claudia Roth warf Union und FDP einen "Anschlag auf die Demokratie" vor. "Ich sehe ganz große Chancen, die Laufzeitverlängerungen zu stoppen." Linke-Fraktionschef Gregor Gysi warnte die Regierung, den Widerstand in der Bevölkerung gegen längere Atomlaufzeiten zu unterschätzen. "Es entsteht mehr als ein rebellischer Geist in der Bevölkerung", sagte er. Gysi betonte, seine Partei könne sich eine gemeinsame Klage mit SPD und Grünen vor dem Bundesverfassungsgericht vorstellen.
Alle Oppositionsparteien erklärten am Wochenende, sich auch künftig an dem Protest auf der Straße und vor Gericht beteiligen zu wollen. Weil das schwarz-gelbe Lager im Bundesrat keine eigene Mehrheit hat, lehnt die Bundesregierung es ab, die Länderkammer in den Gesetzgebungsprozess zur Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke auch in der Länderkammer beraten zu lassen. Dagegen hatten verschiedene Bundesländer bereits Verfassungsklage angedroht.
Unterdessen verteidigten Regierungsparteien ihre Atompläne - und gingen gegen die Opposition in die Offensive. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe nannte es unglaubwürdig, wenn SPD und Grüne heute gegen Atomkraft demonstrierten: "Untergehakt mit der Linkspartei versuchen Gabriel, Trittin und Co. ihre massiven Versäumnisse vergessen zu machen", sagte Gröhe. "Rot-Grün ist seinerzeit ohne taugliches Konzept in den Ausstieg aus der Kernkraft gerannt."
Der CSU-Landesgruppenchef im Bundestag, Hans-Peter Friedrich, sagte, die Demonstranten repräsentierten nicht die Mehrheit der Bevölkerung. Union und FDP hätten die Bundestagswahl vor einem Jahr mit der klaren Ansage gewonnen, die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängern zu wollen.
FDP-Generalsekretär Christian Lindner warf SPD und Grünen vor, mit den Ängsten der Menschen zu spielen. Die beiden Parteien seien durch ihre Absprachen dafür verantwortlich, dass die Sicherheit der Atommeiler lange nicht modernisiert worden sei. Sie hätten die Suche nach einem Endlager verzögert.
Sowohl das Wirtschafts- als auch das Umweltministerium wollten am Sonntag die große Beteiligung an der Demonstration nicht gegenüber der taz kommentieren. Am Samstag hatte Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) allerdings die eigene Regierung für die Außendarstellung ihrer Atompläne kritisiert: "Ich glaube, dass wir noch viel stärker deutlich machen müssen, dass die Frage der Kernenergie 10 Prozent ausmacht und sich 90 Prozent unseres Konzeptes mit erneuerbaren Energien beschäftigt."
Unterdessen sieht der Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann in den Antiatomprotesten vom Wochenende den Beginn einer neuen Protestkultur in Deutschland: "Das ist das Fünkchen, aus dem sich eine neue politische Bewegung entwickeln kann", sagte der Mitautor der kürzlich vorgestellten Shell-Jugendstudie. Die Bundesregierung betreibe zwar "eine profilierte Energiepolitik", sagte Hurrelmann, diese genieße aber nur wenig Rückhalt bei den Bürgern. Eine Spaltung der Gesellschaft oder gar eine Eskalation durch Gewalt befürchte er jedoch nicht.
Das bestätigt auch eine Umfrage des ZDF. Demnach sieht die Mehrheit der Bevölkerung in den Atomplänen der Regierung vor allem die Interessen der Energiekonzerne berücksichtigt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Kohleausstieg 2030 in Gefahr
Aus für neue Kraftwerkspläne
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins