Nach den Europawahlen: Verzerrter Volkswille
Wenn Wahlergebnisse missinterpretiert werden, entstehen „Hochburgen“, die keine sind. Wahlentscheidungen müssen präziser analysiert werden.
D eutschland in Schwarz und Blau geteilt – die Bundesrepublik hat nach den Europawahlen ein Bild von sich erhalten, das viele seit Längerem beschwören. Um diesen grafischen Effekt zu erzeugen, wird der Volkswille allerdings verzerrt repräsentiert. Und es zeigt sich ein unheilvolles Zusammenspiel zweier Kräfte: Die Kombination aus wahlarithmetischen Gepflogenheiten der liberalen Demokratie und der auch effekthascherisch skandalisierenden Berichterstattung über das Wachstum der Nationalisten in Europa bringt mittlerweile beachtliche Missrepräsentationen des Wahlvolks in seiner Gesamtheit hervor, die Konsens für rechts suggerieren.
Von „Hochburgen bei der Europawahl“ ist in der Presse die Rede, wenn sich die Deutschlandkarte gemäß den Wahlergebnissen in den Landkreisen und kreisfreien Städten einfärbt. Die Partei mit dem größten Stimmenanteil darf ihren Kreis oder ihre Stadt nun als ihre „Hochburg“ bezeichnen. Das ist effektvoll für Grafiken, fast ganz Ostdeutschland lässt sich damit blau in der Farbe der AfD einfärben, fast ganz Westdeutschland schwarz in der Farbe der CDU. Doch die Kollateralschäden zeigen sich in der Suggestion, eine schwarz-blaue Welle hätte die Bundesrepublik überspült, aus der nur noch wenige grüne und rote Inseln herausragten.
Die „Wahlsieger“ werden auf diese Weise größer gemacht, als sie sind. Beispielsweise Leipzig. Seit Ende des 19. Jahrhunderts eine linke Hochburg, holte die AfD bei den Europawahlen 18,2 Prozent der Stimmen. Auf der Karte verschwindet die Stadt in Sachsen nun jedoch in einem Meer von Blau. Soll das eine Hochburg sein, in der nicht einmal jeder fünfte Wähler die Partei wählte, die als „Wahlsiegerin“ gilt?
In der sozialwissenschaftlichen Verwendung sind Hochburgen zum einen Kreise, in denen eine Partei ihre höchsten Stimmanteile erhält, ohne dass dies bedeuten muss, dass sie diesen Wahlkreis gewinnt. Die AfD hat Hochburgen in Görlitz (40,1 Prozent) und dem Osterzgebirge (39,5 Prozent). Das bedeutet nicht, dass ganz Ostdeutschland aus AfD-Hochburgen besteht. Die CDU indes hat ihre aktuelle Hochburg im niedersächsischen Vechta, wo sie bei den Europawahlen über 50 Prozent der Stimmen holte. Bayern kann nach wie vor als Land der CSU-Hochburgen gelten, mit Ausnahme der Städte. München oder Nürnberg sind keine CSU-Hochburgen, obwohl die CSU dort bei den Europawahlen um die 30 Prozent holte und stärkste Kraft wurde. Und noch weniger sind Leipzig oder Dresden, wo die AfD mit um die 20 Prozent stärkste Partei wurde, jetzt plötzlich Hochburgen der AfD.
Zunehmende Tendenz, kleinere Parteien zu wählen
Wer überall dort, wo eine Partei stärkste Kraft wird, von einer „Hochburg“ dieser Partei spricht, riskiert, eine Tradition zu erfinden, die keine ist. Unterbelichtet bleiben so die Umstände, unter denen die meisten Parteien heute Wahlkreise gewinnen, insbesondere in den Städten, wo nun einmal ein großer Teil der Deutschen wohnt: die Zersplitterung des Parteiensystems und die zunehmende Tendenz der Wählenden, kleineren Parteien ihre Stimme zu geben.
Worin auch immer die Ursachen für dieses Wahlverhalten liegen – die öffentliche Wahlberichterstattung muss ihre Sprache und die damit verbundenen Repräsentationen des Volkswillens dringend anpassen. Denn wenn sich Kreise und Städte oder ganze Staaten in den Wahlgrafiken und anderen politischen Selbstbeschreibungen jetzt blau, schwarz, rot oder grün einfärben, wenn gerade einmal jeder fünfte Wähler für diese Farbe steht, dann werden Minderheiten zu repräsentativen Mehrheiten gemacht.
In Zeiten wachsender Größe des Parteiensystems und wachsender Volatilität der Wählenden ist es auch an der Zeit, über die Repräsentation von Mehrheiten neu nachzudenken, auch über negative. Negative Mehrheiten sind in Deutschland belastet, seitdem die Weimarer Republik kurz vor ihrem Ende einer solchen Mehrheit aus Kommunisten und Nationalsozialisten gegenüberstand.
Hundert Jahre später haben sich die Bedingungen gewandelt, und man kann heute Wahlergebnisse nüchtern als Voten für bestimmte Lösungen auf einem diversifizierten politischen Markt begreifen. So würden im Übrigen auch die Wählenden ernst genommen. Die Kontroversität der Fragen, wie mit Flucht und Asyl umzugehen und wie der Klima- und Energiekrise beizukommen ist, wie sich noch das Leben finanzieren lässt, spiegelt sich in der Spreizung der Lösungsangebote, denen Wählende heute etwas abgewinnen können.
Neben dem CDU-Wahlblock gibt es einen für Rot-Grün
Man muss das Ergebnis der Europawahlen deshalb auch als ein europapolitisches Votum lesen – und nicht als bundespolitische Klatsche für die Ampel. Eine relative Mehrheit der Deutschen will demnach eine EU-Politik, für die Ursula von der Leyen steht. Eine absolute Mehrheit will sie nicht. Eine noch kleinere relative Mehrheit will, mit der AfD, raus aus der EU. Neben einem Wählerblock für die Union gibt es einen grün-roten, der bemerkenswerterweise größer ist als jener für CDU/CSU. Um die AfD mit ihren 15,9 Prozent zu schlagen, genügt schon eine Allianz aus Grünen und FDP. Die haben zusammen 17,1 Prozent – das ist historisch gesehen kein schlechtes Ergebnis für Liberale.
Die Wahlberichterstattung in Medien und anderen Teilen der Öffentlichkeit muss also präzisere, kreativere und weniger AfD-gebannte Interpretationen des Volkswillens entwickeln, wie er sich in Wahlen äußert. Denn sonst kreiert sie verzerrte Repräsentationen, aus denen sich selbst erfüllende Prophezeiungen werden können. Sie muss raus aus der Logik der alten Bundesrepublik, als sich lediglich drei Parteien um die Wählergunst stritten. Parteien müssen sich fragen, wie sie konstruktive Allianzen gegen „stärkste“ Kräfte bilden können, die lediglich kleine Minderheiten der Wählenden vertreten.
Genau an dieser Aufgabe scheitert die Ampel derzeit: Repräsentationen eines Volks zu produzieren, das aufgrund seiner Wahlentscheidungen gar nicht anders kann, als sich im Bauen von Allianzen zu üben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen