Nach dem Unglück von Smolensk: Polen rührt russischer Beistand
Fast ungläubig blickt das geschockte Polen nach Russland. Auch dort hängen die Fahnen auf Halbmast und im Fernsehen läuft Andrzej Wajdas "Katyn"-Film.
Warschau taz | Polen trägt Trauer. Kaum ein Passant auf den Straßen, der sich drei Tage nach dem Absturz der polnischen Präsidentenmaschine in Russland ein lustiges T-Shirt oder einen bunten Pulli übergezogen hätte. Die Straße rund um den Präsidentenpalast in Warschau musste gesperrt werden - sie ist schwarz vor Menschen. Tag und Nacht stehen sie dort, legen Blumen nieder, weinen, beten und sprechen sich gegenseitig Trost zu. Bei der Flugzeugkatastrophe am Sonnabend starben 96 Menschen, darunter Polens Präsident Lech Kaczynski und sein Frau Maria. Von Dienstag an wird er öffentlich aufgebahrt, so dass die Polen von ihm Abschied nehmen können.
"Dass er ausgerechnet in Katyn sterben musste!", kommentierte bereits am Samstag Aleksander Kwasniewski, der frühere Präsident Polens, die Katastrophe. "Auf diesem Ort liegt ein Fluch!" Vor 70 Jahren hatte dort der sowjetische Geheimdienst NKWD auf Befehl Stalins rund 22.000 polnische Offiziere durch Genickschuss töten lassen. Sie waren die Elite der Nation. Danach hatte Moskau jahrzehntelang versucht, den Nazi-Deutschen die Schuld für das Massaker in die Schuhe zu schieben. Als Lech Kaczynski, der der Toten in Katyn gedenken wollte, nun selbst im Sarg aus Russland nach Polen zurückkehrte, stockte vielen Polen der Atem. "Schon wieder Russland", stöhnten sie. Im ersten Impuls fragten sich viele: "Was haben wir den Russen getan, dass sie uns so hassen?"
Doch die Bilder und Berichte aus Moskau und Smolensk rühren viele Polen zutiefst. Denn die Russen trauern mit. Fast ungläubig sehen nun viele Polen nach Moskau. Dort wandte sich Präsident Dmitri Medwedjew noch am Unglückstag an das polnische Volk: "Mit tiefem und aufrichtigem Mitgefühl habe ich, wie alle Bürger Russlands, die Nachricht von dieser schrecklichen Tragödie aufgenommen." Medwedjew sicherte den Polen zu, dass die russische Seite alles tun werde, um gemeinsam mit den polnischen Experten und Staatsanwälten die Unglücksursache vor Ort aufzuklären. Er ordnete für Montag einen Staatstrauertag in Russland an. "Hätten wir das auch gemacht, wenn in Polen ein Flugzeug mit Russen an Bord abgestürzt wäre?", fragt ein älterer Mann, der mit anderen Trauernden am Präsidentenpalast in Warschau ins Gespräch gekommen ist. "Ich bin mir nicht so sicher", antwortet ihm eine weißhaarige Greisin. "Nach dem, was passiert ist über all die Jahre, sind unsere Herzen verhärtet."
In Russland übernahm Premier Wladimir Putin persönlich die Leitung der Untersuchungskommission. Noch am Mittwoch hatte er gemeinsam mit Polens Premier Donald Tusk an einer Gedenkfeier für die Opfer von Katyn teilgenommen. Es war das erste Mal überhaupt, dass eine solche Feier auf Einladung Moskaus stattfand. Auf der polnisch-russischen Gedenkfeier hatte Putin ganz klar "die Verbrechen des Totalitarismus" und Stalins verdammt. Allerdings fiel das Wort "Entschuldigung", auf das viele Polen gewartet hatten, in seiner Ansprache nicht. Dennoch bewerten die meisten Polen die erste gemeinsame Gedenkfeier und den versöhnenden Händedruck zwischen Putin und Tusk als eine Wende in den polnisch-russischen Beziehungen. "Wir sind bereits zur Versöhnung", titelte die polnische Kulturzeitschrift Znak.
Als nun auch der Premier Polens zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage nach Smolensk flog und am Unglücksort zur stillen Trauer niederkniete, half ihm Putin auf und umarmte ihn freundschaftlich. Worte waren unnötig. Die Geste war auch so klar. "Wir fühlen mit euch", sollte sie heißen. Als am nächsten Tag der Sarg mit dem polnischen Präsidenten für ein paar Minuten auf dem Rollfeld des Smolensker Militärflughafens stand, trat Putin näher, verneigte sich und legte als einen letzten Gruß Blumen neben dem Sarg ab. Millionen Menschen sahen es im polnischen Fernsehen. "Ich rechne ihm das hoch an", sagt der ältere Mann in Warschau vor dem Präsidentenpalast. "Ich habe ihn immer für einen kalten Apparatschik gehalten. Und jetzt das!"
Nicht nur in Polen, auch in Russland hängen am Montag die Fahnen auf Halbmast, Zeitungen erscheinen zum Zeichen der Trauer in Schwarz-Weiß, Radio und Fernsehen verzichten auf lustige Unterhaltungssendungen. Am Sonntagabend zeigte Russlands staatlicher Sender Rossija den Kinofilm Andrzej Wajdas "Katyn" im Hauptprogramm. Tage zuvor war der Film, der über Monate hinweg von den russischen Kinos boykottiert worden war, im Kulturkanal von Rossija gelaufen. Obwohl "kultura" weniger Zuschauer hat als das Hauptprogramm, galt schon die Uraufführung des Katyn-Films im staatlichen russischen Fernsehen als Durchbruch in der Geschichtsaufarbeitung Russlands.
Nun aber, nach dem Unglück von Smolensk, der Gedenkfeier von Putin und Tusk und der ausführlichen Berichterstattung in den russischen Medien, redet plötzlich ganz Russland über Katyn. In Polen wird das sehr aufmerksam registriert. Immer wieder hatten Straßenumfragen gezeigt, dass kaum ein Russe mit dem Wort Katyn etwas anfangen kann. Das jahrelange Schweigen, das Nichtwissen der Russen und die sowjetische Katyn-Lüge belasteten das polnisch-russische Verhältnis extrem. Nun aber liegen Blumen über Blumen als ein Zeichen der Anteilnahme vor Polens Botschaft in Moskau. Tausende Russen tragen sich in das Kondolenzbuch ein, das dort ausliegt. Auch Präsident Medwedjew hat dies am Montag getan. Diese Bilder, die das polnische Fernsehen überträgt, verfehlen nicht ihre Wirkung. Trotz der tiefen Trauer scheint vielen Polen eine schwere Last von der Seele zu fallen. So als sei nun der Moment gekommen, wo man mit den Russen wieder reden kann.
"Noch wissen wir nicht, warum das Flugzeug mit dem polnischen Präsidenten an Bord abgestürzt ist", sagt die Greisin in Warschau. "Vielleicht wollten die Russen verhindern, dass Kaczynski in Katyn erneut die ganze Wahrheit einfordern würde?" Ihr Gesprächspartner schüttelt den Kopf: "Diesmal sind die Russen wohl unschuldig", meint er. "Vielleicht war es ja Kaczynski, der den Befehl zum Landen gegeben hat? Trotz des Nebels." Die Greisin wendet sich zum Gehen: "In Kürze werden sicher die Protokolle der Flugschreiber veröffentlicht. Dann wissen wir, wer an diesem Unglück schuld ist."
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