Nach dem Kachelmann-Prozess: Steilvorlage für den Boulevard
Der Prozess um Jörg Kachelmann ist zu Ende – die Diskussion über seine Schuld geht weiter. Wie die Medien Gerichtsverfahren beeinflussen können.
Viele - nicht alle - Medien haben ihre Rolle gewechselt. Sie haben nicht mehr beobachtet und berichtet. Sie haben Partei ergriffen und für ihre Sicht gekämpft. Bild, Bunte und Focus standen treu an der Seite der Frau, die alles ins Rollen gebracht hatte. Zeit und Spiegel standen eher auf der Seite von Jörg Kachelmann.
Im Gerichtshof der Öffentlichkeit war Kachelmann schon längst verurteilt oder freigesprochen - lange bevor das Gerichtsverfahren begann. Aber sind diese voreiligen Festlegungen und Vorverurteilungen überhaupt ein Problem für die Justiz und die Gerechtigkeit? Was ist schlimm daran, wenn Medien über Prozesse spekulieren und Richter spielen?
Die Macht der Medien beeinflusst auch die Gerichte. Gerichte sollen frei und unabhängig entscheiden. Das garantiert sogar das Grundgesetz. Richter arbeiten aber nicht im luftleeren Raum, sondern in einem konkreten gesellschaftlichen und medialen Umfeld. Umfangreiche Studien aus den USA und aus Deutschland belegen empirisch, dass Gerichte sich von Medienberichten und den Erwartungen der Öffentlichkeit beeinflussen lassen. Sie geben es nicht gern zu. Aber: Richter konsumieren Medienberichte über ihre Prozesse. Sie wissen, wie die Öffentlichkeit über den Fall denkt, den sie gerade verhandeln. Und das hat Auswirkungen auf ihre Urteile. Hier liegt das Problem für uns alle: Weil Medien Gerichte beeinflussen (können), ist der Medienrummel auch ein Problem für den Rechtsstaat.
Die Bild-Zeitung fordert lebenslänglich. Das Gericht verurteilt zu - lebenslänglich? So einfach und primitiv funktioniert der Einfluss natürlich nicht. Kommunikation ist ein extrem komplexes Phänomen. Welche konkreten Auswirkungen Medienberichte auf ein Urteil haben, hängt natürlich vom Einzelfall ab. Nicht zuletzt auch von der Medienkompetenz und der Mediensouveränität der Richter
Die Unschuldsvermutung
In der Welt der Medien gelten andere Gesetze als in der Welt der Justiz. Ein Beispiel: Die Strafjustiz wird von der Unschuldsvermutung dominiert. Jedenfalls sollte das so sein, fordert das Grundgesetz. Jeder Angeklagte gilt so lange als unschuldig bis ihn ein Gericht rechtskräftig verurteilt hat. Aus der Sicht des Opfers ist das schwer erträglich. Trotzdem: Dieser ganz alte rechtsstaatliche Grundsatz ist eine unverzichtbare Voraussetzung für ein faires Gerichtsverfahren. Denn nicht jeder, der angeklagt wird, ist am Ende auch schuldig.
Ob jemand schuldig ist oder nicht, lässt sich oft nur in einem langen und akribischen Verfahren herausfinden. Die schnelle Welt der Medien kann damit wenig anfangen. In ihr geht es um Tempo, dramatische Zuspitzungen und persönliche Tragödien. Ganz schnelle Entscheidungen und emotionale Urteile sind dabei üblich, wenn nicht unverzichtbar. Dafür ist die Berichterstattung in der Causa Kachelmann ein eindrückliches - und erschreckendes - Beispiel. Ähnliche Fälle lassen sich in der jüngsten Zeit ohne Schwierigkeiten finden: der Fall der No-Angels-Sängerin Nadja B., der Fall des Bundestagsabgeordneten Jörg T. oder die Steuerstrafsache des ehemaligen Post-Chefs Klaus Z.
Prof. Dr. jur. habil. Dr. rer. pol. Volker Boehme-Neßler (48) lehrt u. a. Medienrecht in Berlin. Zuletzt erschien von ihm: "Die Öffentlichkeit als Richter? Litigation-PR als neue Methode der Rechtsfindung", Nomos Verlag Baden-Baden.
Die Öffentlichkeit
In der Demokratie sind Gerichtsverfahren grundsätzlich öffentlich. Urteile werden im Namen des Volkes gesprochen. Das Volk muss dann auch sehen können, wie diese Urteile entstehen. Trotzdem ist Öffentlichkeit nicht alles. Manchmal ist der Schutz von Zeugen und von Opfern wichtiger. Es darf nicht sein, dass Opfer durch den Voyeurismus der Öffentlichkeit ein zweites Mal verletzt werden. Gerade in Vergewaltigungsverfahren ist der Ausschluss der Öffentlichkeit ein wichtiges Instrument, um die betroffenen Frauen zu schützen. Für (Boulevard-)Medien ist das nur schwer erträglich. Sie leben ja gerade davon, ihrem Publikum buchstäblich alles zu zeigen und zu schildern. Zurückhaltung passt nicht ins Geschäftsmodell.
Die Öffentlichkeit kann ein Moloch sein. Das zeigt der Fall Kachelmann wieder in aller Schärfe. Allerintimste Details wurden über Wochen durch Teile der Medien skrupellos veröffentlicht und breit diskutiert. Kein Wunder, dass aus der Politik schon die Forderung kommt, bei ähnlichen Strafprozessen die Öffentlichkeit grundsätzlich immer auszuschließen. Selbstverständlich ist dieser Vorschlag völlig inakzeptabel. Pressefreiheit und Öffentlichkeit sind in der Demokratie viel zu wichtig. Nicht zuletzt dient die Öffentlichkeit als Kontrollinstanz. Eine Geheimjustiz, von der die Öffentlichkeit nichts erfährt, entspricht nicht den Anforderungen der deutschen Verfassung.
Soviel Öffentlichkeit wie möglich, so wenig Ausschluss der Öffentlichkeit wie nötig, um die Opfer zu schützen: Diese Balance müssen Gerichte in jedem einzelnen Fall wieder neu und souverän hinbekommen. Die Kachelmann-Richter im Landgericht Mannheim haben das nicht geschafft. Als Gegenreaktion zur öffentlichen Debatte haben sie die Öffentlichkeit von der Hauptverhandlung exzessiv ausgeschlossen.
In dubio pro reo
Im Zweifel für den Angeklagten. Das ist einer der Grundpfeiler des modernen Rechtsstaats. Ein Gericht darf nur verurteilen, wenn es keinen vernünftigen Zweifel an der Schuld eines Angeklagten hat. Wenn es Zweifel hat, muss es freisprechen. Dabei gilt: Freispruch ist Freispruch. Einen Freispruch zweiter Klasse kennt das Recht nicht. Das ist vor allem den Boulevardmedien nur sehr schwer zu vermitteln.
Wer die Berichterstattung über das Kachelmann-Urteil in der Boulevardpresse verfolgt, reibt sich verwundert die Augen. Ist Jörg Kachelmann nicht freigesprochen worden? In der Bild-Zeitung ist die Rede von einem "Ja-aber-Freispruch". Vor allem geht es ausführlich um alle Aspekte, die den Verdacht gestützt haben. Freispruch ist Freispruch? Nicht für die Boulevardpresse. Sie hält an ihren Vorverurteilungen fest - und faselt sogar von einem "Freispruch dritter Klasse".
Ein überfordertes Gericht
Das Gericht in Mannheim war dem Ansturm der Medien nicht gewachsen. Es hat sich im Gerichtsgebäude vor den Medien und den Bürgern verschanzt und die Öffentlichkeit exzessiv ausgeschlossen. Das war erstaunlich unsouverän. Aber noch mehr: Das ist ein Problem für den Rechtsstaat. Die Öffentlichkeit konnte nicht sehen, wie das Urteil entstanden ist. Das weckt Misstrauen und schafft Raum für Verschwörungstheorien.
Der Tiefpunkt im Mannheimer Landgericht war die Begründung des Freispruchs. Die Richter haben ausdrücklich betont, dass sie nicht von der Unschuld des Wettermoderators Jörg Kachelmann überzeugt sind. Was sollte das? Das war eine - juristisch völlig unnötige - Steilvorlage für die Boulevardmedien. Jetzt lassen sich sogar die Richter als Kronzeugen für den "Ja-aber-Freispruch" anführen.
Neuerfindung des Rechtsstaats
Jeder Strafprozess ist auch eine Inszenierung und ein Symbol. Er symbolisiert den Rechtsstaat, der versucht, akribisch und objektiv zu klären, was passiert ist. Im Idealfall steht am Ende ein Urteil, durch das das Vertrauen in den Rechtsstaat - und ein bisschen auch die Gerechtigkeit - bestätigt oder sogar gestärkt wird. Das ist hier nicht gelungen. Im Gegenteil: Der Rechtsstaat steht da als hoffnungslos überforderte Institution. Wie lässt sich das in Zukunft ändern?
Über die Medien zu jammern, hilft nicht. Medien sind Medien und funktionieren nicht nach der Logik der Justiz. Der Rechtsstaat muss sich deshalb in der Mediengesellschaft neu erfinden. Die entscheidende Frage lautet: Wie lassen sich in einem entfesselten Medienumfeld heikle und menschlich schwierige Prozesse nach rechtsstaatlichen Prinzipien durchführen? Das ist eine schwierige Aufgabe, für die es kein Patentrezept gibt. Sie ist aber wichtig. Auch in der Mediengesellschaft ist der Rechtsstaat nötig, um Rechtsfrieden zu schaffen, ohne die Freiheit der Bürger unnötig einzuschränken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist