Nach dem "Fall Kevin": Wie das Elend gemanagt wird
Die Begriffe "Fallmanager" und "Fallkonferenz" haben in Bremen seit dem "Fall Kevin" einen miesen Ruf. Dabei sitzen dort Profis zusammen, die versuchen, kaputte Familien zu reparieren. Mehr können sie nicht tun.
Video-Home-Training, Fit-Point, EB, SPFH, Hippy. Die Begriffe fliegen über den Tisch, verständlich nur denen, deren Beruf es ist, Familien zu reparieren. In der Familie, wegen der an diesem Morgen zwei Kindergärtnerinnen, eine Kinderärztin und vier Sozialarbeiterinnen im sechsten Stock des Sozialzentrums Bremen-Ost zusammensitzen, ist einiges kaputt. Der Vater: 34, kriegstraumatisiert, bekämpfte ohne fremde Hilfe seine Drogenabhängigkeit, saß in Haft. Die Mutter: 27, nach einem Selbstmordversuch suizidgefährdet, psychisch labil. Die Kinder: Ein vierjähriger Junge, ein anderthalbjähriges Mädchen und ein wenige Tage alter Junge, alle ungewollt, der älteste Sohn entwicklungsverzögert und verhaltensauffällig. Das letzte Mal, als Rebecca Rynas, eine der vier Sozialarbeiterinnen, ihn besucht hat, schlug er nach ihr. Seine Art der Kontaktaufnahme.
Für Rynas ist das nichts besonderes, sondern das alltägliche Elend, mit dem sie in ihrem Job zu tun hat. Die 26-Jährige arbeitet beim Amt für Soziale Dienste und entscheidet dort, für welche Programme der Staat Geld ausgibt, um Familien wie dieser zu helfen. "Fallmanagerin" lautet ihre Berufsbezeichnung, in "Fallkonferenzen" trifft sie diejenigen, die mit den "Fällen" spielen, sie untersuchen, ihnen sprechen beibringen, ihren Eltern zeigen, wie Erziehung geht. Manche, wie an diesem Tag die Kinderärztin, können nur an der Konferenz teilnehmen, wenn sie frei haben.
Die Familie, um die es heute geht, hat Rynas im vergangenen Herbst kennen gelernt. Eine Familienhebamme, die wegen der dritten Schwangerschaft die Familie regelmäßig besuchte, bat das Jugendamt, vorbei zu schauen, weil sie die Eltern für überfordert hielt. Die Diplom-Sozialpädagogin Rynas, die gerade ihr Jahrespraktikum im Sozialzentrum Ost abgeschlossen hatte, bekam den Anruf an ihrem zweiten Arbeitstag als Fallmanagerin. "Vier Tage später habe ich die Familie besucht", rechnet sie vor, "noch zwei Tage später war ich mit einer Familienhelferin da". Und hätte die Familienhebamme gesagt, die Kinder seien akut in Gefahr, "wäre ich noch am selben Tag rausgefahren", schiebt sie hinterher. Nur keine Missverständnisse aufkommen lassen.
Die Zahlen sind wichtig, denn früher konnte es dauern, bis jemand vom Jugendamt vor Ort nach dem Rechten sah. Wenn überhaupt. "Früher", das ist in Bremen zwei Jahre her und heißt "vor Kevin". Bevor ein Zweijähriger von seinem drogenabhängigen Ziehvater tot geschlagen und Monate später von der Polizei in dessen Kühlschrank gefunden wurde. Das Jugendamt, das Kevins traurige Lebensumstände seit seiner Geburt kannte, hatte an der Familie erfolglos herumgeschraubt und zu spät erkannt, dass es hier nichts mehr zu reparieren gab und Kevin im Heim besser aufgehoben wäre. Besonders versagt, das hatte ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss heraus gefunden, hatte Kevins Fallmanager. Obwohl die Geschichte in seiner Dramatik ein Einzelfall geblieben ist, ist die Berufsbezeichnung in Bremen seitdem mit einem Makel behaftet. Rynas stört das nicht. "Ich habe ja erst danach angefangen." Sie ist eine der vielen Neuen, die eingestellt wurden, als "nach Kevin" nicht mehr zu übersehen war, dass im Amt zu wenig Manager für zu viele Fälle da waren. Genug sind es immer noch nicht, das sagt selbst die Sozialsenatorin. Zum einen steigen bundesweit die Zahlen hilfebedürftiger Familien, zum anderen rufen die Leute, die ein Kind in Not sehen, jetzt schneller beim Jugendamt an als "vor Kevin".
Als besonders ineffektiv hatten sich in Kevins Fall auch die Fallkonferenzen erwiesen, in denen die Interessen aller bedient wurden, außer die des Kindes - dem Amt das Interesse nach Ruhe, dem Ziehvater nach dem Trugbild der heilen Familie und den Jugendhilfe-Vereinen nach Aufträgen. Um zu zeigen, dass Bremer Fallmanager keine berufsmüden Schreibtischtäter sind, die sich auf Fallkonferenzen von freien Trägern über den Tisch ziehen lassen, hat die Sprecherin der Sozialsenatorin die Presse eingeladen, an einer solchen Konferenz teilzunehmen. Nicht zufällig findet diese im Gewerbegebiet an der Pfalzburger Straße in Hemelingen statt. Das hier ansässige Sozialzentrum hatte schon "vor Kevin" den Ruf, trotz hoher Arbeitsbelastung einen guten Job zu machen. Wegen der Presse ist ausnahmsweise auch Rynas Vorgesetzter Günther Friedrich dabei, der ein sichtliches Vergnügen daran hat, über Geld zu sprechen. "Früher haben Pädagogen das einfach nicht gemacht", sagt er, der seit 1974 im Amt arbeitet. Die Pädagogen um ihn herum versuchen, ihn mit Blicken davon abzuhalten, die Fragen der Presse nach Kosten zu beantworten. Keine Chance. "Eine Familienhilfe kostet 900 Euro im Monat." Die Familienhelferin und ihre Vorgesetzte lächeln etwas gequält.
Aus Kostengründen abgelehnt wird der Vorschlag der Familienhelferin, ein so genanntes "Video-Home-Training" einzusetzen. Dabei wird eine Familie gefilmt und bekommt später Szenen gezeigt, die eine gute "Interaktion" zwischen den Familienmitgliedern zeigen, wie die St.Petri-Mitarbeiterin es nennt. Sie möchte anonym bleiben, um die Familie zu schützen. Aus demselben Grund bittet die Fallmanagerin Rynas darum, nicht zu schreiben, aus welchem osteuropäischen Land die Eltern vor zehn Jahren nach Deutschland gekommen sind.
Skeptisch betrachten einige in der Runde auch "Hippy", ein bundesweites Programm, das so genannten "bildungsfernen" Eltern helfen soll, ihre Kinder auf die Schule vorzubereiten. Dieses Elternpaar neige dazu, seine Kinder zu überfordern, zu viel von ihnen zu wollen, hat Kindergärtnerin Theda Middents beobachtet. "Druck raus, Spaß rein", findet auch die Familienhelferin - und wünscht sich eine bessere "Vater-Sohn-Bindung". Sie erzählt, dass der Junge nach dem besten Freund des Vaters benannt ist, der während des Krieges im Schützengraben neben ihm starb. Vater und Sohn wird der "Fit-Point" der St.-Petri-Jugendhilfe verschrieben. Hier wird Eltern gezeigt, wie sie mit ihren Kindern spielerisch Sport treiben können.
Viel mehr wird an diesem Vormittag nicht beschlossen, anders als beim letzten Mal im November, wo darum "gerungen" wurde, wie es die Behindertenpädagogin Middents nennt, wie viele Stunden die Kinder zu Hause verbringen sollten. Das Ergebnis: Am besten nur die Nächte und das Wochenende.
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