Nach dem Erdbeben in Italien: Ein Riss im Land
In der Käserei „4 Madonne“ wurden 13.000 Laibe Parmesan zerstört. Matteo Torri schippt die Trümmer in den Hof – für Tierfutter.
MODENA/MIRANDOLA taz | In Mirandola parkt der Feuerwehrmann Massimo Perluzzi seinen roten Jeep immer sehr präzise, im weitest möglichem Abstand zu den Gebäuden. Das hübsche Landstädtchen im Herzen der Emilia-Romagna war das Epizentrum des Bebens vom 29. Mai. Wie alle in der „Roten Zone“ der zerstörten Altstadt eingesetzten Spezialisten der Feuerwehr hat Perluzzi studiert – er ist Ingenieur. Ein Beruf, der für Rationalität, fürs Machen, für Konstruktivität steht.
„Abreißen, abreißen, abreißen“, sagt der Ingenieur Perluzzi beim Vorbeifahren an Kirchen, Wohnhäusern und Amtsgebäuden. Man könne aber nicht schematisch vorgehen, Altbau oder Neubau sei kein Kriterium. Es komme eher darauf an, wie ein Haus über die Jahrzehnte und Jahrhunderte in Schuss gehalten worden sei. Was auf den ersten Blick völlig in Ordnung aussehe, könne im nächsten Moment einstürzen. Er zeigt auf einen Renaissance-Palazzo auf der zentralen Piazza della Constituente. „Hier zum Beispiel: Drei gerade Risse von oben nach unten. Das Haus hat sich sozusagen einmal um sich selbst gedreht – Ende.“ Ein Zeitungsplakat verkündet noch „segni di ripresa“, Zeichen der Erholung, die Geschäfte in „centro storico“, dem Zentrum, würden nach dem Erdbeben vom 20. Mai bald wieder öffnen. Datiert ist das Plakat auf den 28. Mai 2012. Tags darauf bebte die Erde zum zweiten Mal.
Die Erde hat sich aufgetan an jenem 29. Mai in der Emilia-Romagna – in einem Land, das ohnehin zunehmend an sich selbst zweifelt. Große Risse durchziehen seitdem die Felder, die zubetonierten Flussläufe, die mittelalterlichen Wohnhäuser, die schnell hochgezogenen Fabriken und die prächtigen Renaissancekirchen der Region. 26 Menschen sind gestorben.
Ein Verlustgeschäft
Gut dreißig Kilometer von Mirandola entfernt, in der Käserei „4 Madonne“ an der Peripherie der Stadt Modena, hat es nicht einmal Verletzte gegeben. Hier sind 13.000 Laibe Parmesan zerstört worden. Das ist für den mittelständischen, genossenschaftlich organisierten Betrieb eine Katastrophe – eine, die gut riecht, wenn man vor dem Backsteingebäude aus dem Auto steigt. Man muss durch den Gang in den Hof bis in die Lagerhalle der Käserei gehen, um zu verstehen, was hier eigentlich geschehen ist.
„Ein winziger Riss – schon kommt der Schimmel in die Formen“, sagt der Käsemacher Matteo Torri. Und wenn das passiert ist, muss man sich beeilen. Die vierzig Kilo schweren Laibe, die eigentlich mindestens ein Jahr lang reifen sollten, werden zerteilt, verpackt und als Sonderangebot losgeschlagen, wofür die Käserei aber nicht ausgelegt ist, weder von der Infrastruktur noch vom Personal her. Oder die Parmesan-Trümmer werden abgeholt, maschinell gerieben, um dann als Fertigprodukt im Supermarkt zu enden. Ein Verlustgeschäft ist beides.
Matteo Torri ist ein großer, massiger Mann Ende dreißig, mit kräftigen Muskeln, die man nicht im Sportstudio bekommt. In der achtzig Meter langen und zwanzig Meter hohen Lagerhalle wirkt er gebeugt und zerbrechlich. Das Gebäude, ein Neubau, in dem insgesamt 33.000 Käseformen lagerten, hat das Erdbeben heil überstanden. Zu einem Viertel ist es schon leer geräumt. Dass bei dieser Arbeit niemand zu Schaden kam, sei ein Wunder, sagt Torri.
30 Sekunden bei Stärke 5,8
Die Laibe reifen auf einem Konstrukt aus Holzbohlen, die genau wie Bierbänke aussehen. Sie und die sie stützenden Metallstreben hat der Erdstoß der Stärke 5,8 30 Sekunden lang durchgerüttelt. Das Ergebnis ist noch Wochen später so, dass einen der Hass überkommen kann: auf die Natur, auf Kräfte, die sich über den Menschen und seine Anstrengungen lustig zu machen scheinen. Es ist ein riskantes Mikado, Holz vom Metall und vom Käse zu trennen. Viele Stücke sind angeschimmelt, Reste werden wie Schnee mit großen Schaufeln in den Hof geschippt. „Bestenfalls Tierfutter“, sagt Torri.
Draußen im Hof sind ein Dutzend Leute bei der Arbeit, Angestellte der Genossenschaft „4 Madonne“, die die Milch von 26 Bauernhöfen der Gegend verarbeitet, Familienangehörige, freiwillige Helfer. Die Stimmung ist wie auf einem Leichenschmaus zu vorgerückter Stunde: Es wird schon wieder gelacht und gescherzt, aber die Tonlage bleibt gedämpft.
„Wegschmeißen, wegschmeißen, wegschmeißen.“ Das tue weh, sagt Torri. Er wirkt jetzt entschlossen wie Don Camillo im ewigen Kampf gegen den Kommunisten Peppone. Die Filme sind in einem Dorf eine Autostunde von hier gedreht worden. Aber Torri hat keinen sprechenden Jesus wie Don Camillo an seiner Seite, er muss allein klarkommen. „Wir hier in der Emilia, wir geben nicht auf. Wir wollen sofort wieder anpacken. Wir können nicht nichts tun.“
Auf der Landstraße zurück nach Mirandola kann man über diesen Satz ins Grübeln kommen. Von der friedlich-melancholischen Poebene der Schwarz-Weiß-Filme aus den fünfziger Jahren ist wenig übriggeblieben. Die Landschaft wirkt wie ein gigantisches Gewerbegebiet. Dass man durch ein Italien in der schärfsten Wirtschaftskrise der Nachkriegsgeschichte reist, zeigen die zahlreichen Schilder mit der Aufschrift „vendesi“ (zu verkaufen) und „affitasi“ (zu vermieten). In der Zeitung la Repubblica schreibt der Dichter Roberto Roversi über seine Heimat, es gebe jetzt viel gute Gefühle, die des Anpackens, der Solidarität, des Wiederaufbaus. Was man aber eigentlich brauche, sei eine Vision, wie man leben wolle.
Rastlose Wiederaufbaumentalität
Auch bei Altreconomia, der wichtigsten italienischen Zeitschrift für alternatives Wirtschaften, fairen Handel und Genossenschaftswesen, findet man die rastlose Wiederaufbaumentalität in der Emilia bedenklich. Alle sprächen von den Schäden, sagt der jugendlich-resolute Chefredakteur Pietro Raitano, niemand von den hunderten leerstehenden Fabriken und Lagerhallen, denen auch die Erdstöße nichts hätten anhaben können. Wann, wenn nicht jetzt nach der Katastrophe, wolle man wenigstens einen Moment innehalten? Die Todesfälle in der Emilia seien im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass man nach dem ersten Beben am 20. Mai viel zu früh versucht habe, die Produktion wieder anzufahren.
Die Menschen haben eine Riesenangst um ihren Arbeitsplatz, sagt Caterina Dellacasa im Krisenzentrum Mirandolas, das in einer Schule im Neubaugebiet eingerichtet worden ist. Das Rathaus liegt in der „Roten Zone“, die von Spezialisten wie dem Feuerwehrmann Perluzzi gesperrt worden ist und streng kontrolliert wird. Alle 6.000 Einwohner dort haben ihre Wohnungen räumen müssen, sind in Zeltstädten oder bei Verwandten untergekommen. Ihre Kinder haben viele gleich ganz aus der Gefahrenzone geschickt.
Das Problem in Mirandola sei der medizintechnische Sektor, sagt Dellacasa. Gut hundert hochspezialisierte Firmen geben 20.000 Einwohnern Arbeit. Tatsächlich habe man nach dem ersten Beben am frühen Morgen des 20. Mai sofort versucht, alles wieder herzurichten – aus Angst, dass die Fertigung ins Ausland verlagert werden könnte. Beim zweiten Beben am 29. Mai wären dann die Menschen in den Fabriken umgekommen.
Im Italien der Krise dächten viele so: Lieber das Leben riskieren, als die Arbeit verlieren. Und dann sagt auch die 29-jährige Dellacasa, die eigentlich Kulturreferentin ist, das gleiche wie der Käsemeister Matteo Torri: „Wir können nicht anders. Wir müssen sofort wieder anfangen.“ Im Nebenraum büffeln Schüler fürs Abitur.
Die Fahrt im Feuerwehrjeep hinein in die Altstadt Mirandolas ist wie eine Kamerafahrt in einem neorealistischen Film über die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs, wie das vorsichtige Eindringen einer Patrouille in eine gerade von der Wehrmacht und den italienischen Faschisten geräumte Stadt. Leer. Still. Kaputt. Und auf eine merkwürdige Art friedlich. Der fünfzigjährige Perluzzi hat dabei etwas von John Wayne als US-Army-Colonel.
Eine Halbinsel in der Krise
Am Checkpoint an der Via Francesco Montanario hieß es noch „Mirandola geht nicht in die Knie“. Hier rein darf von den Bewohnern nur, wer ein dringendes Anliegen hat. Medikamente, ein Haustier, wichtige Dokumente. Die Uhr des Doms liegt zerschmettert im Staub, die des Rathauses schlägt noch. Pünktlich. Schweizer Fabrikat, sagt Perluzzi. Er bleibt im Jeep sitzen, hupt nur kurz, wenn man draußen vergisst, den Helm aufzusetzen. Er war schon überall, von den Abruzzen 2009 bis zurück zum katastrophalen Irpinabeben in Süditalien 1980. Hier in der Ebene sei es einfacher. Die Emilia ist ein reiches Land, die Kaufkraft liegt ein Drittel über EU-Durchschnitt. Verluste in der historischen Substanz seien nun mal nicht zu vermeiden, sagt Perluzzi.
Die Erdstöße in der Emilia, dem „Herzen Italiens“, wie der Dichter Roberto Roversi sagt, sind ein bisschen wie die Krise, die die ganze Halbinsel erfasst hat: Sie hören einfach nicht auf, sie verlagern sich ständig, sie fügen sich in keine dramaturgisch saubere Erzählung mit Einleitung, Hauptteil und Schluss. Matteo Torri und Caterina Dellacasa schuften 15 Stunden am Tag, um die Risse zu schließen, die sich aufgetan haben. Vielleicht muss man genauer hinsehen. Mit dem Blick dafür, wie alles gekommen ist. Mit Abstand. Wie der Ingenieur Perluzzi.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Täter von Magdeburg
Schon lange polizeibekannt
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?