„Der Afghanistan Einsatz der Bundeswehr“ oder „Das Unvermögen der Politik(er) zu angemessenem selbstkritischen Umgang mit den eigenen politischen Entscheidungen!
Die offensichtlich orientierungslos geführte Debatte der politischen Führung um den Bundeswehreinsatz Afghanistan erschreckt! Nicht nur wegen der offensichtlichen Blauäugigkeit mit der seitens der politischen Akteure agiert wird, sondern auch wegen der Ignoranz gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen in Afghanistan.
Ob Letzteres nun (partei)politischem Kalkül entspricht oder schlichtweg Uninformiertheit ist, mag man dahingestellt lassen. (Im Ergebnis würde sich durch diese Erkenntnis für die Mitbürger, die als SoldatenInnen in Afghanistan Dienst tun, ohnehin nichts ändern!)
Man führe sich bitte noch einmal vor Augen: Der Norden von Afghanistan, also der deutsche Verantwortungsbereich des Regionalkommando Nord (RC North), hat eine Größe die ungefähr 50 % der Landfläche Deutschlands entspricht (eine Ausdehnung von rund 1.200 km in Ost-West-Richtung und rund 400 km Nord-Süd Richtung)!
Allein die Entfernung von Kundus nach Feyzabad, den Standorten der beiden deutschen Provincial Reconstruction Teams (PRT) beträgt rund 260 Kilometer.
Ich zitiere ergänzend aus einem Bericht des Bundestagsabgeordneten Winfried Nachtwei (Quelle: www.nachtwei.de/index.php/articles/375 ), der einen guten Einblick in die geographische Lage vor Ort vermittelt und damit auch die Herausforderungen skizziert denen sich die SoldatenInnen vor Ort gegen übersehen.- Zu seinem Besuch im PRT Feyzabad führte er aus: „Die u.a. an China angrenzende Provinz erstreckt sich über 450 km in Ost-West- und 300 km in Nord-Süd-Richtung und umfasst eine Fläche von der Größe Dänemarks. Die Bevölkerung wird auf ca. eine Mio. geschätzt. Badakhshan sieht sich als „vergessene Provinz". Die Lebensadern des PRT nach außen sind dünn und weit: Von Kunduz nach Feyzabad braucht man auf dem Landweg ca. 12 Stunden (im Winter ggfs. unpassierbar), durch die Luft ca. 1 Stunde. Da hier die zweimotorige Transall zu Normalzeiten nicht landen darf, kommen hier überwiegend die - knappen - CH-53-Hubschrauber zum Einsatz. Die Infrastruktur ist katastrophal, asphaltierte Straßen gibt es nicht. 40 km können hier eine Tagesreise bedeuten, Patrouillen in einen Ort 80 km Nordost brauchen 6 Tage.“ und weiter „Schon mit geschützten Fahrzeugen ist nur ca. die Hälfte der Distrikte erreichbar. Mit gepanzerten Fahrzeugen wären nur noch fünf Distrikte eingeschränkt erreichbar, die 23 anderen nicht mehr.“ Und zu seinem Besuch im PRT Kundus führte er weiter aus: „Der Verantwortungsbereich des PRT ist so groß wie Sachsen-Anhalt bei einer Bevölkerung wie Hamburg. Es gibt zwei befestigte Straßen, eine in Nord-Süd, die andere in Ost-West-Richtung.“
Ein Kontingent von derzeit 4.240 deutschen SoldatenInnen (davon übrigens 310 Reservisten!) hat also den Auftrag, in dieser Fläche gemeinsam mit den weiterhin mäßig ausgebildeten und ausgerüsteten Afghanischen Sicherheitskräften den Schutz der afghanischen Bevölkerung vor Übergriffen der Taliban sicherzustellen (deutsche Terminologie: Schutztruppe).
Es soll ein „robustes“ Mandat sein, das die Bundeswehr in Afghanistan für die UN umsetzen soll. So zumindest die Lesart dessen, was deutsche Politiker hinlänglich in der Öffentlichkeit verbreiten!
Ohne Frage gehört es dann dazu, dass man als Truppe vor Ort die Fähigkeit hat, diese Mission auch initiativ durchzuführen!
Ein Blick auf die zur Verfügung stehenden militärischen Kräfte der Bundeswehr im Norden des Landes ernüchtert: Die Masse des derzeitigen deutschen Kontingents von 4240 SoldatenInnen sind „Unterstützungskräfte“ [stab, Versorgung, Schutz, Sanität, Operative Informationen, Feldjäger, EOD, Feldlagerbetrieb, Ausbildung (OMLT, Polizeiausbildung, Kraftfahrer und Mechaniker, mobile Ausbildungsteams etc.), Militärisches Geologiewesen, Wehr- und Truppenverwaltung etc.].
Dieses deutsche Kontingent verteilt sich in Masar-i-Scharif auf das RC-North, hier zusammen mit den Soldaten des deutschen QRF-Verbandes und der Forward Support Base (FSB), den Heeresfliegern und der Luftwaffeneinheit, die mit den Tornados den Einsatz unterstützen; auf die Feldlager der beiden PRT in Feyzabad und Kundus; auf das Provincial Advisory Team (PAT) in Taloqan; auf den Strategische Lufttransportstützpunkt in Termez (Usbekistan); Abkommandierungen von deutschen Soldaten in das ISAF Hautquartier, die Schule für Kraftfahrer und Mechaniker in Kabul etc..
Nach eigener optimistischer Schätzung bleiben dann noch max. rund 800 - 1000 deutsche SoldatenInnen übrig die zur Verfügung stehen, um unter Berücksichtigung des Schichtbetriebs(!) an sieben Tagen der Woche tatsächlich operative Aufgaben wahrzunehmen, die annähernd dem eigentlichen Auftrag dienen: „Unterstützung der vorläufigen Staatsorgane Afghanistans und ihrer Nachfolgeinstitutionen bei der Aufrechterhaltung der Sicherheit, so dass sowohl die afghanischen Staatsorgane als auch das Personal der Vereinten Nationen (inkl. ISAF) und anderes Zivilpersonal (insb. solches, das dem Wiederaufbau und humanitären Aufgaben nachgeht) in einem sicheren Umfeld arbeiten können, und Sicherheitsunterstützung bei der Wahrnehmung anderer Aufgaben in Unterstützung des Bonner Abkommens.“
Um es noch einmal zu verdeutlichen: Wenn, unter Berücksichtigung der Sicherheitslage, der beschränkten Bewaffnung, der eingeschränkten Tranportkapazität (bedingt durch: unzureichend einsatzbereite Fahrzeuge, fehlende ausreichend gepanzerte Fahrzeuge und der unzureichenden Lufttransportpazität), dem Fehlen schwerer Waffen/ Kampfhubschrauber; 200 bis 300 deutsche SoldatenInnen gleichzeitig die Lager verlassen können, um relevante Aufgaben in der Fläche (Patrouillen und Außenpräsenz) im Rahmen des UN-Mandates im Norden von Afghanistan wahrzunehmen, wäre das viel!
Wenn man sich diese Erkenntnis vor Augen führt, dann wird einem schlagartig vor dem Hintergrund der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan und der damit verbundenen Herausforderungen der deutschen SoldatenInnen vor Ort klar: Dieser Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan ist im Ergebnis ein politischer Papiertiger!
Denn das, was diese wenigen deutschen Soldaten tatsächlich operativ im militärischen Sinne ihres Auftrages (friedenserzwingender Einsatz) erreichen können, ist ob der aktuellen eskalierenden Bedrohungslage durch die Taliban faktisch Null!
Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Die geäußerte Kritik vom Nato Oberbefehlshaber in Afghanistan McChrystal ist absolut berechtigt! Das deutsche Kontingent ist derzeit nicht in der Lage, seinen Auftrag militärisch angemessen auszuführen!
Und wenn man unabhängige Quellen verfolgt, muss man feststellen, dass die Taliban in einigen Distrikten offenbar inzwischen völlig unkontrolliert agieren! Der in London ansässige International Council on Security and Development (ICOS) teilte am Freitag mit, dass die Taliban seit vergangenem November in 80 Prozent des Landes „permanent“ präsent sind. In weiteren 17 Prozent des Landes gebe es „substanzielle“ Aktivitäten der Taliban. Auch in bislang eher friedlichen Gebieten im Westen und Norden des Landes habe sich der Einfluss der Taliban ausgeweitet, vor allem in der Provinz Kundus, in der die Bundeswehr stationiert ist. „Permanente“ Präsenz definiert ICOS als ein oder mehr Anschläge pro Woche, „substanzielle“ Präsenz als durchschnittlich ein oder mehr Anschläge pro Monat.( Quelle: www.icosgroup.net/modules/press_releases/eight_years_after_911 ) Eine Situation die nicht nur die deutschen SoldatenInnen bedroht, sondern gleichfalls Auswirkungen auf die Sicherheitslage auch der anderen PRT’s, der Norweger, Schweden und Ungarn im Norden des Landes hat!
Würde man aus dieser Feststellung nun Rückschlüsse auf das weitere Vorgehen ziehen, müsste man konsequenterweise seitens der politischen Führung sagen: Die bisherige Strategie für Afghanistan ist gescheitert; der politische Traum, durch Waffeneinsatz den Wiederaufbau erfolgreich begleiten zu können, ausgeträumt; das Kontingent der Bundeswehr ist unverzüglich zurückzuziehen!
Nur dieses würde weder den in Afghanistan eingesetzten deutschen Soldaten gerecht, die sich mit größtem Einsatz der übertragenen schweren Aufgabe stellen, und es wäre unverantwortlich gegenüber der afghanischen Bevölkerung, der man sich mit dem Bundeswehreinsatz gegenüber verpflichtet hat! (Und es würde ohne Frage einer Destabilisierung der gesamten Region Vorschub geleistet, die dann - durch die zwangsläufige Stärkung der radikal-islamistischen Kräfte - tatsächlich auch Rückwirkungen auf die Sicherheitslage in Deutschland haben könnte!)
Insoweit wäre es eigentlich ob der sich veränderten Lage in Afghanistan längst zwingend notwendig gewesen, seitens der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages – unter Einbindung der Öffentlichkeit – nunmehr die möglichen Handlungsoptionen zu diskutieren, das politische Ziel des Bundeswehreinsatzes neu zu definieren, eine neue angepasste schlüssige Strategie zu entwickeln und über die daraus folgenden Maßnahmen zu entscheiden!
Dieses wäre zumindest eine Erwartungshaltung aus Sicht der Bürger gewesen, die (nur mal angenommen!) uneingeschränkt Vertrauen zu ihrer politischen Führung hätten. Und eigentlich hätte man sich auch jede öffentliche Diskussion über den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan ersparen können, wenn man als Bürger den zweifelsfreien Eindruck hätte, dass man seitens des Parlaments – also derer, die als verlängerte Werkbank der Bürger den Bürgerwillen angemessen umsetzen sollen – diesen Bundeswehreinsatz umfänglich kritisch konstruktiv gegenüber der Bundesregierung und der Bundeswehrführung begleiten würde!
Nur leider muss man feststellen, dass von Teilen des Parlaments scheinbar die angemessen kritisch konstruktive Begleitung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan gegenüber der Bundesregierung unterblieben ist! Mehr noch, man stellt fest, dass die Verschleierungs- und Vertuschungsversuche der Bundesregierung über die Lage in dem Land und die eskalierende Bedrohungssituation für die deutschen SoldatenInnen in Afghanistan durch kollektives Schweigen der die Regierung tragenden verantwortlichen Mandatsträger in der Öffentlichkeit auch noch unterstützt wird! Offensichtlich scheint der überwiegende Teil der Mandatsträger vor der Wahl in eine Art Schockstarre beim Thema Afghanistan verfallen zu sein!
Als Bürger reibt man sich, ob der aktuellen Erkenntnisse zum Afghanistan Einsatz der Bundeswehr, daher nicht nur verwundert die Augen, sondern man stellt sich gleichzeitig die Frage, wie ein Teil der Mandatsträger im Deutschen Bundestag ihre Aufgabe eigentlich definieren, wenn sie bislang doch scheinbar tatenlos dieser Lageentwicklung in Afghanistan zugeschaut haben?
Der aktuelle Vorfall des verheerenden Luftangriffs auf die Tanklastzüge in der Nähe des deutschen PRT in Kundus, hat nicht nur eine Ernüchterung dahingehend geschaffen, dass ein Versagen der militärischen Führung (wer auch immer in der Befehlskette dafür persönliche Verantwortung zu übernehmen hat!) nun auch zum Tode derer führen kann, die die Bundeswehr angetreten ist zu beschützen; sie hat auch deutlich gemacht, dass die bisherige Informationslage der Bundesregierung über die Lage in Afghanistan und der Situation der deutschen Soldaten scheinbar der Desinformation der Bürger diente!
Auf den Punkt gebracht, man hat offensichtlich versucht – unter den (vornehmlich geschlossenen) Augen des Parlaments – eine Informationslage zum Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr aufrecht zu erhalten, der dazu geeignet war, jegliche öffentliche Diskussion zu vermeiden
Man führe sich das bitte noch einmal als Bürger vor Augen; das Parlament lässt es zu, dass seitens der Regierung Bürgern (vorsätzlich) Informationen vorenthalten werden - die diese in die Lage versetzen würden, sich eine eigene Meinung zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan zu bilden und ihnen schlussendlich ermöglichen an einer politischen Meinungsbildung mitzuwirken(!) - weil dieses „informiert sein“ ihr Wahlverhalten bei der Bundestagswahl beeinflussen könnte!
Ich weiß nicht wie man das unter Politikern nennt? Ich nenne das schlichtweg „Betrug am wählenden Bürger“ und entnehme daraus, dass sich ein Teil unserer Politiker offensichtlich zunehmend nicht mehr bewusst ist, welche verantwortungsvolle Aufgabe sie im Rahmen unserer Verfassung vom Bürger (auf Zeit!) übertragen bekommen haben!
Wer als Politiker ein derart verqueres Selbstverständnis entwickelt, dass er aktiv oder passiv (durch Schweigen!) einem offensichtlichen Betrug am wählenden Bürger Vorschub leistet, der muss sich nicht nur den Vorwurf gefallen lassen, dass er die Grundprinzipien einer Demokratie in Frage stellt, sondern auch für sich die Frage beantworten, was er eigentlich in der Politik zu suchen hat?
Und hinsichtlich der Regierungserklärung der Bundeskanzlerin zu Afghanistan (am 08.09.2009 im Deutschen Bundestag) hätte man als Bürger zumindest erwarten können, dass wesentlich differenzierter und angemessen kritisch mit dem aktuellen Vorfall, wie auch selbstkritisch mit dem Einsatzszenario der Bundeswehr in Afghanistan umgegangen wird. Genau das aber wurde vermieden!
Die Bundeskanzlerin hat mit ihrem Redebeitrag eher das verstärkt, was man als Bürger inzwischen den verantwortlichen Regierungsmitgliedern wie auch einem Teil der Mandatsträgern hinlänglich vorwerfen muss: Die Politik versucht die Situation der deutschen SoldatenInnen in Afghanistan zu kaschieren, um dieses Thema aus dem Wahlkampf herauszuhalten!
D.h. aber auch, man negiert bewusst in politisch unverantwortlicher Art und Weise die Gefährdungslage, die für SoldatenInnen der Bundeswehr im Norden von Afghanistan entstanden ist und der man sich eigentlich (Wahl hin oder her!) unverzüglich hätte stellen müssen!
Meine persönliche Schlussfolgerung aus dem Erleben des Vorgehens der Politik zum Thema des „Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan“: Als Bürger dieses Landes verbitte ich mir daher von den verantwortlichen Mitgliedern der Bundesregierung zum Thema Afghanistan getäuscht oder gar belogen zu werden; von den Mandatsträgern im Deutschen Bundestag erwarte ich als Bürger, dass sie im gebotenen Maße ihrer Kontrollaufgabe gegenüber der Bundesregierung zum Bundeswehreinsatz in Afghanistan konstruktiv kritisch nachkommen und die Öffentlichkeit angemessen und vorbehaltlos informieren!
Und ich füge hinzu: Die SoldatenInnen in Afghanistan haben unsere ungeteilte Unterstützung verdient! Und weil es um Mitbürger geht, die in einer besonderen Verpflichtung zu diesem Staat stehen und als SoldatenInnen in „Befehl und Gehorsam“ eingebunden sind, liegt es an uns Bürgern auf die verantwortlichen Politiker einzuwirken und Klarheit in die politische Entscheidung des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan zu bringen!- Die Politik allein scheint in unserem Land hierzu derzeit nicht mehr in der Lage zu sein!
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