NS-Verfolgung der Sinti und Roma: „Wir haben da ein großes Defizit“
Die Bedeutung des Marzahn-Lagers für die Verfolgung der Sinti und Roma wurde lange unterschätzt, sagt Patricia Pientka – auch wegen bestehender Vorurteile.
taz: Frau Pientka, Sie haben die Geschichte des NS-Zwangslagers für Sinti und Roma in Marzahn erforscht. Was hat Sie dabei am meisten überrascht?
Patricia Pientka: Der Zustand des historischen Verfolgungsorts, so wie ich ihn Ende 2006 das erste Mal gesehen habe, als ich nach Berlin gezogen bin. Das Lagergelände ist überhaupt nicht mehr als solches zu erkennen. Es wurde nach der Wiedervereinigung komplett überbaut. Erst Ende 2006 wurden eine Straße und ein kleiner Platz nach Otto Rosenberg benannt, Überlebender des Zwangslagers und erster Vorsitzender des Landesverbands der Sinti und Roma. Davor gab es nur eine ganz kleine Tafel. Das fand ich angesichts der wichtigen Rolle, die dieses Lager für die lokale und auch überregionale Verfolgung von Sinti und Roma spielt, überraschend wenig. Es gibt ja sonst in der Stadt recht viele historische NS-Erinnerungsorte.
Wie muss man sich das einstige Lager vorstellen?
Es lag am Stadtrand, direkt daneben war ein Rieselfeld, es stank also sehr unangenehm. Ansonsten war es einfach nur ein Feld, auf dem die Leute mit ihren Wohnwagen zusammengepfercht und sich mehr oder weniger selbst überlassen wurden.
Wer wurde dahin gebracht?
Da das Hauptwohlfahrtsamt spätestens seit 1934 gemeinsam mit der Berliner Polizei die Lagergründung vorbereitete, ging es unter anderem um diejenigen, die von der Wohlfahrt lebten. Anhand der Quellen sieht man aber, dass im Juli 1936 rund 600 Menschen aus dem ganzen Stadtgebiet verhaftet und nach Marzahn verschleppt wurden. Sie wohnten teils in Wohnungen, teils in Wagen. Die Opfer kamen also aus sehr unterschiedlichen Verhältnissen. Daher war der Zugriff ohne die Orts- und Personenkenntnisse der lokalen Verwaltungsleute nicht möglich. Zu diesem Zeitpunkt verwendete man noch einen soziografischen Zigeunerbegriff. Dabei ging es vermutlich um als „typisch“ angenommene Lebensformen: Wohnwagen, viele Kinder, bestimmte Berufe wie etwa Artisten. Interessant ist, dass in den ersten sechs Monaten Menschen wieder das Lager verlassen durften, weil sich herausstellte, dass sie „der Rasse nach“ keine Sinti und Roma waren.
Also gab es keine feste Definition, wer Sinti und Roma waren?
Das ist das Bemerkenswerte an Zwangslagern wie Köln oder Berlin: Beide wurden eingerichtet, bevor Ende 1936 die Rassenhygienische Forschungsstelle unter Robert Ritter mit rassenbiologischen Prämissen ihre Arbeit aufnahm. Und erst 1938 hat diese Stelle Kriterien festgeschrieben, wer mit wie viel „Blutanteil“ „Zigeuner“ ist.
Lebte denn die Mehrheit der Sinti und Roma in Wohnwagen?
Das kann ich für Berlin anhand der Akten nicht bestätigen. Die Menschen wohnten überall, und die meisten Adressen von Opfern, die ich habe, beziehen sich auf Mietwohnungen. Nur eine Minderheit hat in Wagen gelebt.
30, hat Geschichte und Philosophie an der Humboldt-Universität studiert. Sie promoviert am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg mit einer Arbeit über die Beziehungen zwischen Berlin und Tel Aviv.
Aber wo wohnten dann die Menschen im Lager, die keine Wagen hatten?
Unterhalb der Wagen von anderen zum Beispiel, das war wohl das Gängigste. Man sieht aber auch auf Bildern, dass Betten zwischen Wagen im Freien aufgestellt waren. Oder sie schliefen auf freiem Feld. 1938 ließ dann das Hauptwohlfahrtsamt drei alte Polizeibaracken aufstellen. Im folgenden Herbst lebten von insgesamt 853 Festgehaltenen 217 in den Baracken. Das war sehr, sehr beengt.
Welchen Zweck hatte das Lager?
Nachträglich betrachtet dienten Lager wie dieses erst einmal der Exklusion, also der gewaltsamen Ausgrenzung der Sinti und Roma. Zur Durchsetzung der „Volksgemeinschaft“ war der erste Schritt, einen Teil der Bevölkerung auszuschließen. Langfristig gesehen waren die Lager auch ein Reservoir für Zwangsarbeit – und Ausgangspunkt der Deportation in verschiedene Zwangslager. Die erste gab es 1938, vor allem Männer kamen unter dem Stichwort der Kriminalitätsbekämpfung von Marzahn ins KZ Sachsenhausen. Ab März 1943 wurden die meisten nach Auschwitz-Birkenau deportiert.
Wir war das Verhältnis der Nachbarn zum Lager?
Mit ihrem Buch "Das Zwangslager für Sinti und Roma in Berlin-Marzahn. Alltag, Verfolgung und Deportation" hat Patricia Pientka die erste umfassende Studie zu dem 1936 eingerichteten Zwangslager vorgelegt. Erschienen ist es Ende des vergangenen Jahres in der Reihe "Zeitgeschichten" im Berliner Metropol-Verlag.
In dem Buch sind auch erstmals die einzigen datierten zehn Fotografien aus dem Lager des Amateurfotografen Artur Georgi abgedruckt, die 1936 zu Propagandazwecken für das Lichtenberger Heimatmuseum entstanden.
Darüber haben wir wenige Informationen. Eine stammt vom Zeitzeugen Oskar Böhmer, der sagt, die umliegenden Bauern seien „feindlich gesinnt“ gewesen, auch der Lebensmittelhändler des Dorfs. Die Inhaftierten mussten sich ja selbst mit Lebensmitteln versorgen. Aber der Händler verkaufte den Bewohnern wohl nur die Reste, die die Leute im Dorf übrig ließen.
Die Leute konnten also das Lager verlassen?
In den ersten Jahren – so erschließt es sich zumindest aus den Quellen. Es ist keine Lagerordnung überliefert, aber alle Zeitzeugen erinnern sich etwa, dass man abends um zehn Uhr dort sein musste. Ab 1939, als außer Alten und Kindern alle in Zwangsarbeitsverhältnissen waren, brachte der Weg zur Arbeit die Menschen aus dem Lager.
Wo arbeiteten sie denn?
Unterschiedlich. Die Zwangsarbeit war häufig beim Straßen- und Tiefbauamt, aber manche mussten auch in eine Seifenfabrik in Neukölln. Die ungewöhnlichste Zwangsarbeit war sicher die als Statist für Leni Riefenstahls Film „Tiefland“.
Wie muss man sich die Verhältnisse im Lager vorstellen?
Es gab eine Lagerwache, die aus mindestens fünf Polizisten oder Wachangestellten bestand. Zeitzeugen erinnern sich, dass sie einen Hund hatten, der auf Häftlinge gehetzt wurde und schwere Bissverletzungen verursachte. Die Polizisten schreckten nicht davor zurück, exzessiv Gewalt anzuwenden, mit Tritten, Faustschlägen, Schlägen mit dem Degen – teilweise wegen Übertretungen der nicht überlieferten Lagerordnung oder einfach so.
Und was hat die Rassehygienische Forschungsstelle im Lager gemacht?
Sie hat die Leute körperlich vermessen, nach ihren Verwandtschaftsverhältnissen befragt. Schon diese Untersuchungen sind natürlich gewalttätige Übergriffe. Aber es kam auch zu regelrechter Gewaltanwendung, wenn sich die Leute nicht entsprechend der Erwartungen der Rassenforscher verhielten.
Sie haben nach Akteuren geforscht. Wer waren die Täter?
Zentral sind, in Berlin und anderswo, die Ende 1938 in der Polizei eingerichteten Dienststellen für „Zigeunerfragen“. In Berlin hieß der Leiter Leo Karsten. Nach dem Krieg wurde er Kriminalrat in Ludwigshafen und im ganzen Bundesgebiet als Gutachter und Experte zu Entschädigungsfragen für Sinti und Roma geladen. Seine Aussage führte unter anderem dazu, dass der Senat das Marzahner Lager lange nicht als Zwangslager anerkannt hat – weil er sagte, die konnten sich dort frei bewegen. Wörtlich sagt er etwa: „Die Zigeuner konnten dort ihrer Art folgen.“ Diese Kontinuität gab es in vielen Fällen: Ausgerechnet die Täter wurden in der Nachkriegszeit als Zeugen geladen und haben antiziganistische Vorurteile bestätigt – etwa dass die Inhaftierten alle kriminell gewesen seien.
Wie erforscht man die Opferseite? Mittels Erinnerungen von Überlebenden?
Das ist ziemlich schwierig. Es gibt natürlich Aussagen, Erinnerungen und Zeugnisse von Überlebenden. Ich habe insgesamt 13 für Marzahn gefunden, das ist gar nicht so wenig. Teilweise sind die Berichte auch sehr, sehr ausführlich, vor allem die von Otto Rosenberg, Ewald Hanstein und Oskar Böhmer – leider stammt keiner dieser ausführlichen Berichte von einer Frau. Ergänzend habe ich eine Liste mit allen Namen erstellt, die mir in den Quellen begegnet sind. Dank dieser Übersicht sind jetzt 340 Personen namentlich bekannt, die in Marzahn festgehalten wurden. Die Liste zeigt auch, dass der größte Teil der Internierten Kinder und Jugendliche waren.
Gab es Widerstand im Lager?
Um das herauszufinden, habe ich versucht, die Quellen gegen den Strich zu lesen. Man hängt ja sehr an dieser Quellensprache, die die Menschen als asozial, kriminell und so weiter bezeichnet. Da ist es schwer, eine andere Perspektive zu gewinnen. Aber beispielsweise beschreibt der Rassenforscher Gerhard Stein, dass – entgegen den „rassehygienischen“ Überlegungen – Männer aus dem Lager weiterhin mit schlesischen Arbeiterinnen verkehrten oder „romantische Beziehungen“ zu ihren Freundinnen in der Stadt pflegten. Das deute ich als Selbstbehauptung: ein Festhalten an romantischen Liebesbeziehungen außerhalb rassistischer Vorstellungen. Auch das Festhalten an Körperhygiene unter diesen Bedingungen lässt sich so lesen. Oskar Böhmer beschreibt, dass er immer an der Lagerwache vorbeimusste, aber die hätten ihn nie als Zigeuner erkannt, weil er aussah wie aus dem Ei gepellt, trotz der schlimmen Bedingungen. Er schreibt, wie er jeden Abend die Wäsche von seinen Geschwister und sich gewaschen hat. Wie er also unheimlich viel Mühe darauf verwandte, wenigstens ein bisschen Würde zu bewahren. Zudem sind zwei Fluchtfälle dokumentiert, die ich in meinem Buch genauer beschrieben habe.
Wie hat sich Berlin nach 1945 gegenüber den Überlebenden verhalten?
Eigentlich gar nicht. Der Platz war bis 1949 von ehemaligen Zwangsarbeitern bewohnt. Die meisten gingen zwar weg aus Berlin, auf der Suche nach überlebenden Verwandten, aber einige blieben hilflos zurück. Raimar Gilsenbach hat den in der DDR lebenden Sinti und Roma in den 60ern zu einer Rente verholfen. In Westdeutschland gab es das BGH-Urteil von 1956, dass die Verfolgung von Sinti und Roma vor 1943 keine rassistische war, sondern kriminalpräventiv – das wurde nicht entschädigt. 1963 wurde diese Grenze auf 1938 heruntergesetzt. Das hat also den Berliner Betroffenen, die ja ab 1936 inhaftiert wurden, auch nicht geholfen. Erst 1977 erkannte das Kammergericht die Inhaftierung in Marzahn als rassistische Verfolgung an.
Heute reden wir viel über Roma, die aus Südosteuropa nach Berlin kommen – und meist ist von Problemen die Rede. Ist das Antiziganismus?
Man kann auf jeden Fall sagen, dass die rassistische Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus bis heute nicht breit kritisch hinterfragt wurde. Wir haben da ein riesengroßes Defizit. Das zeigt sich auch daran, dass Roma, die heute aus Südosteuropa, etwa Serbien, kommen, absolut nicht als Nachfahren von Holocaustopfern wahrgenommen werden – was sie definitiv sind. Zudem wird ein „Roma-Problem“ in vielen europäischen Ländern konstruiert, was teils lebensgefährliche Folgen für die Betroffenen hat. Ich gehörte zu einem Team, das ein Methodenhandbuch zum Thema Antiziganismus für schulische und außerschulische Bildungsarbeit herausgegeben hat. Anlass war die Feststellung, dass „Zigeuner“ ein gängiges Schimpfwort auf Berliner Schulhöfen ist.
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