NGOler über Afghanistan-Politik der USA: "Afghanistan braucht Marshallplan"

Die USA müssen weiter in Afghanistan bleiben, fordert der Soziologe Sultan Karimi. Die Rede von einer Exit-Strategie weckt dagegen bittere Erinnerungen.

US-Truppenabzug? Afghanistan ist noch nicht so weit, warnt Karimi. Bild: dpa

SULTAN KARIMI, 52, lebt und arbeitet in Washington, USA und Kabul. Er ist Direktor der Mediothek Afghanistan e. V., einer der ältesten deutsch-afghanischen NGOs überhaupt. Mit der Mediothek unterstützt er den Aufbau der afghanischen Zivilgesellschaft und eines Medienwesens in mehreren Provinzen. Karimi ist Mitbegründer des Arbeitskreises für Afghanistan in Bonn sowie des Rates der Demokratie für Afghanistan.

taz: Herr Karimi, die Lage in Afghanistan hat sich in den letzten zwei Jahren verdüstert, die Taliban sind wieder erstarkt, und seit Monaten arbeitet das Team um US-Präsident Barack Obama daran, die bisherige erfolglose Afghanistanstrategie zu korrigieren. Ist es gut für Ihre Heimat, dass sich die USA eine neue Strategie überlegt haben?

Sultan Karimi: Jede Strategie ist nur so gut, wie ihre Anwendung. Wir hatten seit der Afghanistankonferenz vom Bonner Petersberg im Jahr 2001 bereits durchaus ein gutes, wenn auch zu ehrgeiziges Konzept. Was wir bislang gesehen haben, war aber vor allem, dass mehr geredet als gehandelt wurde. Was mich beunruhigt, ist, dass in Washington bei allen angekündigten Investitionen in die Zivilgesellschaft von Pakistan und Afghanistan immer wieder auch von einer Exitstrategie gesprochen wird.

Sie meinen, eine Afghanistanstrategie, bei der es in erster Linie darum geht, so bald wie möglich die Truppen aus dem Hindukusch abzuziehen?

Die US-Regierung spricht von einer umfassenden Strategie, die sich auf eine militärische, eine wirtschaftliche und eben eine Komponente stützt, unter deren Bedingungen sich die USA zurückziehen können. Ich finde es falsch, zu diesem Zeitpunkt überhaupt davon zu sprechen, sich zurückziehen zu wollen. Afghanistan ist noch lange nicht so weit. Aus afghanischer Sicht weckt all dies bittere Erinnerungen. Der Westen hat uns schon einmal, in den 90er-Jahren, allein gelassen, nachdem ein Stellvertreterkrieg in unserem Land getobt hatte. Extremisten übernahmen anschließend die Kontrolle, ebenjene, die später globale Terroranschläge verübten.

US-Präsident Barack Obama hat in seiner Rede doch deutlich gemacht, dass wesentliche Punkte anders gehandhabt werden müssen, wenn das Vorgehen in Afghanistan erfolgreich sein soll. Dazu gehört die Aufstockung der Truppen im Kampf gegen die Extremisten und eine wesentlich entschiedenere Förderung des Aufbaus der Zivilgesellschaft. Außerdem sollen Pakistan und andere Nachbarländer Afghanistans in die Lösung der regionalen Probleme einbezogen werden. Das erscheint zunächst einmal vernünftig.

Das stimmt, aber wesentliche Forderungen der ersten Afghanistankonferenz wurden noch gar nicht erreicht und werden auch noch lange nicht erfüllt werden können. Erst dann aber sollte sich der Westen Gedanken über einen Rückzug machen. Ich hege starke Befürchtungen, dass die USA nun die Ansprüche niedriger hängen werden, um sich schneller aus dem Gesamtdilemma, das Afghanistan für den Westen darstellt, verabschieden zu können.

Woran machen Sie das fest?

In Washington wird zum Beispiel nicht mehr von einer Demokratisierung Afghanistans gesprochen, sondern lediglich von einer Stabilisierung. Für uns Afghanen, insbesondere die nationaldemokratische Gruppierung, zu der ich mich zähle, ist beides untrennbar miteinander verbunden. Afghanistan kann mittel- und langfristig nicht mithilfe von Warlords stabilisiert werden, oder mit Islamisten oder Dschihadisten. Stabilisieren beinhaltet ja leider keine Wertung. Auch eine Diktatur kann ein Land stabilisieren, Hauptsache, sie ist freundlich gegenüber dem Westen eingestellt.

In Obamas Strategie sind aber bedeutend mehr Mittel zur Förderung der Zivilgesellschaft vorgesehen. Was sollte der Westen darüber hinaus unternehmen?

Geld allein führt nicht zum Erfolg. In den letzten Jahren floss sehr viel Geld nach Afghanistan. Wir benötigen auch einen guten Gesamtplan mit messbaren Ergebnissen, der tatsächlich umgesetzt wird. Für uns Afghanen wäre ein Sieg erst dann erreicht, wenn sich der Westen zu einem umfassenden Wiederaufbau verpflichtet und sich so lange engagiert, bis diese Ziele erreicht wurden. Nach Petersberg haben sich die westlichen Nationen überwiegend auf militärische Lösungen konzentriert. Der Wiederaufbau wurde nie ernsthaft in Angriff genommen.

Was wäre denn aus Sicht der Afghanen dafür notwendig?

Ein umfassender Masterplan. Wenn die internationale Gemeinschaft ein Land aufbauen will, dass fast 30 Jahre Konflikte und Bürgerkrieg hinter sich hat, braucht sie so etwas wie einen Marshallplan. Den hat es bislang nicht einmal ansatzweise gegeben, im Gegenteil. Zwischen den USA und Europa besteht nach sieben Jahren noch keine Einigkeit im Umgang mit Afghanistan. Der Westen hat es nicht geschafft, die verschiedenen Geber zu koordinieren. Bei den großen Zielen, den Menschen- und Frauenrechten zum Beispiel, wurde in Afghanistan selbst nie nach Akteuren gesucht, die das vorantreiben könnten. Man kann die Etablierung der Menschenrechte aber nicht wie bislang ausschließlich den Organisationen des Nichtregierungssektors überlassen.

Zurzeit ist die Sicherheitslage im Land so schlecht, dass sich kaum an zivilen Wiederaufbau denken lässt. Beunruhigt es Sie, dass die USA nun mit den Taliban verhandeln wollen?

Man kann und man sollte mit allen reden, im Rahmen unserer Verfassung und der UN-Charta. Wichtig ist dabei, dass man die großen Ziele nicht aus den Augen verliert. Wenn ich mir die Vergangenheit anschaue, stelle ich fest, dass die USA ihre Interessen in Afghanistan stets sehr kurzfristig definierten. So zum Beispiel, als sie die Dschihadis gegen die Sowjetunion bewaffneten und damit langfristig das Erstarken der Taliban förderten. Wenn man sich nun vorstellt, Afghanistan zu kurzfristigen Zwecken der Stabilität in die Hände von Extremisten, und seien es auch sogenannte moderate, zu geben, dann befürchte ich einen neuen Stellvertreterkrieg.

Sie fordern also im Prinzip, dass sich die westlichen Staaten darauf einstellen müssen, langfristig in Afghanistan zu bleiben. Wollen das denn die Afghanen überhaupt?

Wir Afghanen sind unzufrieden, weil die Versprechungen, wie Frieden, Aufbau demokratischer Institutionen und Rechtsstaatlichkeit, die man uns 2001 gemacht hat, nicht ansatzweise erfüllt wurden. Wir wissen doch selbst am besten, wie problematisch Afghanistan ist. Wir wollen, dass sich der Westen weiterhin zum Engagement verpflichtet, aber in einer koordinierten, gut konzipierten Weise. Afghanistan war immer Spielball ausländischer Interessen, sei es Indien, Russland, England, die USA, um nur einige zu nennen - wir sind daher auch nicht allein verantwortlich für die Lösung der großen Probleme, die wir im Moment haben. INTERVIEW:

ADRIENNE WOLTERSDORF

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.