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NEUJAHRSANSPRACHE: SCHRÖDER IMITIERTE „WETTEN, DASS . . . !?“Banale Litanei, verblüffend verpackt

Traditionell zu Silvester spricht der Bundeskanzler seine „lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger“ persönlich an. Vergangenes wird wohlwollend resümiert, Kommendes hoffnungsvoll antizipiert. Was gut lief im alten Jahr, das geht aufs Konto der jeweiligen Bundesregierung. Was schief lief, das lag nicht in ihrem Ermessen. Zum salbungsvollen Salbadern gesellten sich bisher stets visuelle Signale, die der Ansprache einen fast notariellen Hintergrund gaben – die obligatorische Bücherwand, ein Blumengesteck, vielleicht noch ein Zipfel der Fahne.

Ganz andere Wege ging diesmal „Gerhard Schröder, Bundeskanzler“. Seine Neujahrsrede 2001 war eine recht schamlose Wahlkampfrede 2002. Am häufigsten fiel das gemeinschaftstiftende Wörtchen „wir“, dicht gefolgt von Schröder’schen „ich“. Die peinliche Schulstudie von Pisa? Kontert der Kanzler mit dem Wunsch nach „noch besser ausgebildeten jungen Menschen“. Drohende Rezession? Ach was, der „11. September“ hat unsere „robuste Volkswirtschaft erschüttert“. Es ist der pastorale Ton, in dem sich am bequemsten lügen lässt.

Mit maskenhafter Mimik, ausgelöst durch den flackernden Teleprompterblick, saß Schröder diesmal nicht im offiziösen Büro, sondern in einer weitläufigen Halle seines Kanzleramtes. Auf einem Drehstuhl im Zentrum der Macht. Wie Gottschalk bei „Wetten, dass . . . !?“ drehte sich Schröder damit mal dieser, mal jener Kamera zu – mit dem Effekt, dass hinter ihm ständig wechselnde Perspektiven und Fluchtpunkte sichtbar wurden. Mal schimmerte beruhigend die Kuppel des Reichstages in der Dämmerung, mal fürchtete man um des Kanzlers Knochen – so nah hockte er an einer Treppe, dass man ihn schon polternd hinabstürzen sah. Und diese merkwürdig steife Gestalt soll ein abgebrühter Medienkanzler sein?

Vielleicht erleben wir 2002, wie ihn ein Michael Ballhaus in epischer Kamerafahrt umrundet. Vielleicht wird die Rede demnächst im authentischen Wackelstil dänischer Dogma-Filmer aufgezeichnet. Je banaler die Litanei, desto verblüffender muss ihre Verpackung sein, so die Logik – was allerdings das Ritual einer Neujahrsansprache konterkariert, die von der Wiederkehr des Immergleichen lebt. Sie ist mehr beruhigendes Geräusch als Rede, eine Art „Wort zum Sonntag“ de Luxe mit dem Aufschwung als Froher Botschaft. Und mit herrlich einlullenden Hülsen à la „auch und gerade“ oder „wir sind auf einem guten Weg“. Helmut Kohl, der Experte für das würdevolle Nichts, dieser „Buddha von Oggersheim“ – er ist rhetorisch noch immer unerreicht. ARNO FRANK

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