NACHRUFInge Marszolek, Wegbegleiterin und Türöffnerin vieler Historiker, ist tot. Sie starb in der Geschwindigkeit, in der sie lebte: „Das geht so nicht, mein Lieber“
Inge Marszolek ist tot. So plötzlich, so unerwartet, und so schnell. Mit ihr verlieren wir einen kreativen, unruhigen, kritischen und liebevollen Geist, der sich gerade in Bremen auf vielen Feldern verdient gemacht hat.
Ihre Forschungsschwerpunkte an der Universität Bremen waren Geschichte und Gedächtnis im 20. Jahrhundert, Alltagsgeschichte, Mediengeschichte, zuletzt war sie im Forschungsverbund Kommunikative Figurationen aktiv. Als Gast lehrte sie am International Institute for Holocaust Research und an der Hebrew University in Jerusalem.
Für sehr viele, unter anderem für mich, war sie Mentorin, Lehrerin, Wegbegleiterin, Türöffnerin und vieles mehr. Kennengelernt haben wir uns Mitte der Neunziger, ohne große Vorwarnung lud Inge mich zu einem Vortrag in ihr Kolloquium, dem ich dann jahrelang angehören durfte. Das Kolloquium spiegelte viel von dem, was Inge Marszolek ausmachte: Die Themenauswahl der Abschlussarbeiten war überaus vielfältig, neben der Geschichte der Arbeiterbewegung konnte auch eine Tierrechtsdebatte Platz finden.
Neue methodische Zugänge waren gern gesehen, diskutiert wurde hart, aber fair. Das Kolloquium wurde durch Gemeinsamkeiten zusammengehalten: Die Methode als „Werkzeugkoffer“ (Foucault) musste erkennbar sein, das Thema einer wissenschaftlichen Arbeit sollte zur Persönlichkeit passen, das Material sollte „sprechen“, die Auseinandersetzung mit einem Komplex konnte nicht nur linear, sondern auch quer und bunt und interdisziplinär verlaufen.
Am Jahresende wurde gefeiert. Inge kochte, bereitete literweise Glühwein, ohne ihn selbst zu trinken, und genoss den Kreis der künftigen AbsolventInnen, denen sie als Mentorin weiterhin zur Verfügung stand. Die Definition des Begriffes „Networking“ muss etwas mit ihr zu tun gehabt haben. Inge hegte und pflegte ihre Kontakte. Sie kannte die Stärken und Schwächen ihrer Leute und hatten deren berufliche Perspektiven im Blick. Sie war für private Fragen ansprechbar und offen und ehrlich mit Rat und Tat. Inge war auch diejenige, die einen vorzeitigen Abbruch einer Arbeit nicht zuließ, Wege fand und neue Motivation erzeugen half. Ein Standardzitat: „Das geht so nicht, mein Lieber.“ Ich durfte ihr erster abgeschlossener Promovend sein und erfahren, woher der Begriff „Doktormutter“ seine Berechtigung erhält.
Für das erinnerungspolitische Wirken von Inge Marszolek gibt es in Bremen zwei markante Beispiele: Die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ und die Entwicklung des „Denkort Bunker Valentin“. Die Ausstellung war ein Riesenerfolg: Es gelang, eine im Vorfeld politisch aufgeladene Stimmung in das Fahrwasser einer spannenden politischen und historischen Auseinandersetzung zu bringen. Dazu hat Inge wesentlich beigetragen, sie war es, die die Ausbildung der Führungsguides übernahm und dafür sorgte, dass trotz aller Anfeindungen die Führungen inhaltlich funktionierten und wir alle emotional aufgefangen wurden.
46, ist Direktor der Bremer Landeszentrale für politische Bildung.
Der Bunker Valentin ließ Inge viele Jahre nicht los. Sie kümmerte sich sehr frühzeitig um die wissenschaftliche Aufarbeitung, baute Brücken für die spätere konzeptionelle Arbeit und begleitete das Projekt über die Entstehungsphase hinaus bis jetzt im wissenschaftlichen Beirat des „Denkort Bunker Valentin“. Der aktuelle Besucherandrang und die positiven Rückmeldungen dürften sie zu Recht stolz gemacht haben.
Neue Ziele gab es laufend, das Zentrum für Kommunikationswissenschaften wurde zur späten neuen Heimat und der oftmals angekündigte langsame Rückzug immer nach hinten geschoben. Und nun? Inge ist tot, sie starb in der Geschwindigkeit, in der sie gelebt hat. Wir werden Zeit brauchen, um das zu begreifen, und dabei immer wieder merken, was wir ihr zu verdanken haben.
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