NACH DER UN-OFFENSIVE IN SIERRA LEONE DROHT EIN GRÖSSERER KRIEG: Gangsterland Westafrika
Die gewaltsame Befreiung der UN-Geiseln von Kailahun in Sierra Leone am Wochenende ist ein Kraftakt, von dem die UNO noch lange zehren wird. Angesichts wachsender Kritik vor allem aus den USA an den Friedensmissionen der Vereinten Nationen, bei denen Anspruch und Realität immer weiter auseinander klaffen, kann das UN-Hauptquartier in New York so einen Erfolg gut gebrauchen. Jedem Zweifler kann man nun triumphierend das Stichwort „Kailahun“ ins Gesicht schleudern.
Ob Sierra Leone von der Aktion profitiert, ist schwerer zu sagen. Das Land mit der weltweit größten UN-Mission hat zwar die niedrigste durchschnittliche Lebenserwartung der Welt – sie liegt jetzt bei unter 26 Jahren – und jeden Tag gibt es tausende neue Kriegsflüchtlinge. Aber darum ging es nicht. Die professionellen Friedenserzwinger des völlig ausgelaugten Bürgerkriegslandes haben längst aufgegeben, an Frieden in Sierra Leone zu glauben. Sie sehen ihr Werk als Teil der größeren Mission, diese unruhige Weltregion insgesamt in ihrem Sinne politisch umzukrempeln. Der Kern des Übels heißt für sie Charles Taylor, Präsident des benachbarten und ebenso ausgelaugten Liberia, der sein Amt einem siebenjährigen Bürgerkrieg in seinem Land verdankt. Taylor ist nach allgemeiner Überzeugung nicht nur der Pate von Sierra Leones Rebellen, sondern auch als alter Freund Gaddafis und diverser obskurer Waffen-, Edelstein- und Tropenholzhändler die Speerspitze einer Destabilisierung der alten politischen Ordnung in Westafrika.
Die Folgerung lautet in dieser Logik: Taylor muss weg. In der letzten Woche hat es zum ersten Mal seit langem wieder einen koordinierten Angriff Taylor-feindlicher Rebellen in Liberia gegeben – nach Überzeugung der liberianischen Regierung die Vorhut einer allgemeinen Offensive mit dem Segen der UNO. Solange die mit Taylor verbündeten sierra-leonischen Rebellen UN-Personal festhielten, konnte diese Offensive aber nicht richtig starten. Mit der militärischen Befreiung der 233 UN-Geiseln hat die UNO Taylor nun das Faustpfand aus der Hand geschlagen. Nun kann der große Krieg beginnen – aus Sierra Leone hineingetragen nach Liberia, auf dessen Schlachtfeldern die Zukunft Westafrikas entschieden wird.
Diese „Verschwörungstheorie“ mag nicht stimmen. Es reicht, dass es auf beiden Seiten Entscheidungsträger gibt, die sie glauben. Und sie haben mehr zu sagen als diejenigen, die vergeblich darauf hinweisen, dass Sierra Leones Bevölkerung wahrlich andere Sorgen hat als die Frage, welcher Gangster zu welchem Zeitpunkt in welchem Präsidentenpalast sitzt. DOMINIC JOHNSON
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen