Mutmaßlicher Kriegsverbrecher Karadzic gefasst: Dorftrottel, Doktor, Schlächter
Der mutmaßliche Kriegsverbrecher und Ex-Führer der bosnischen Serben, Karadzic, wendete sich nach Ende des Kommunismus dem Nationalismus zu - eine mörderische Verirrung.
Radovan Karadzic ist eine auffällige Figur. Die Haare lang, von schlanker Figur, die markanten Gesichtszüge werden von der großen Nase noch betont. Der heute 63-jährige Radovan Karadzic ist auf den ersten Blick nicht unsympathisch. Noch vor dem Krieg in Bosnien und Herzegowina 1992 verhielt er sich zumindest Journalisten gegenüber freundlich, machte Witzchen, hörte zu und antwortete konzentriert auf alle Fragen. Er entsprach damals also keineswegs dem landläufigen Bild eines Rechtsradikalen und engstirnigen nationalistischen Eiferers.
Bevor er 1990 seine Rolle als politischer Führer der serbischen Nationalisten in Bosnien und Herzegowina antrat, lebte er ein ziemlich durchschnittliches Leben im damaligen Sarajevo. Er lernte seine Frau Ljiljana Zelen Ende der Sechzigerjahre in jener Familie kennen, bei der er, aus Montenegro kommend, zuerst eine Unterkunft gefunden hatte. Er kam, um Medizin und Psychologie zu studieren. Böse Zungen in Sarajevo behaupten heute noch, dass die dickliche Ljiljana in der vor Schönheiten überbordenden Stadt alles daransetzte, sich ihren Radovan sogleich zu schnappen. Wie dem auch sei: Die beiden Kinder Sonja und Sascha wurden bald darauf geboren. Und die Familie hält, obwohl der Mann ja jahrelang im Untergrund gelebt hat, bis heute nach wie vor zusammen.
Durchschnittsmensch
Radovan Karadzic ist also ein loyaler Familienmensch. Wie kommt es, dass dieser damals eher durchschnittlich lebende Mann als Schlächter des Balkans in die Geschichte eingehen wird und für den Mord an zehntausenden von Menschen ab 1992 in ganz Bosnien politisch verantwortlich zu machen ist? Ist er ein weiteres Beispiel für die These von der "Banalität des Bösen"? Eine tiefer begründete Antwort muss den Gutachtern vorbehalten bleiben.
Bescheidener ist es, das familiäre Umfeld zu beschreiben und die Zeit, als er nach Sarajevo kam, aufstieg und zum machtvollen politischen Spieler wurde. Seine Familie lebte in dem kleinen Dorf Petnjica, als er am 19. 6. 1945 geboren wurde. Petnjica ist ein Dorf in der Nähe der Stadt Niksic in Montenegro, einer Grenzregion zu Bosnien. Die Gegend ist arm, doch die Mitglieder der Familie Karadzic wussten sich durchzusetzen. Seine Mutter stammt aus einer dort bekannten Partisanenfamilie. Noch vor vier Jahren betrieb sein Bruder ein Fuhrunternehmen in der Stadt.
Radovan wuchs während einer Zeit auf, als der sozialistische Staat unter dem legendären kommunistischen Staatschef Tito versuchte, das Land zu industrialisieren. Waren Mitte der Fünfzigerjahre noch 80 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt, waren es Mitte der Siebzigerjahre nur noch 20 Prozent. Die Menschen strömten in die Städte. Noch heute zeugen die Silhouetten von Belgrad, Sarajevo, Split oder Zagreb von dieser Völkerwanderung. Novi Beograd oder Novo Sarajevo heißen die gesichtslosen Hochhaussiedlungen und Schlafstädten dieses neuen Proletariats.
Die alteingesessene Stadtbevölkerung reagierte überfordert und oftmals auch ablehnend den Neuankömmlingen gegenüber. "Seljaci" ( Dörfler, gemeint sind Dorftrottel) nannte zum Beispiel die "Raja", die durch einen ungeschriebenen multinationalen und multireligiösen Verhaltenskodex verbundenen Altbürger Sarajevos, etwas hochnäsig die verunsicherten Neuankömmlinge mit den oftmals rauen Sitten. Selbst Studenten wie Karadzic fühlten diese Ablehnung.
Es ist kein Zufall, dass die Nationalisten der Neunzigerjahre zumeist aus der Schicht der entwurzelten Dörfler kommen, die sich nicht in die Stadtkultur einzupassen vermochten, aber auch nicht mehr auf dem Land verwurzelt waren. Nach dem Zerfall des Kommunismus suchten viele dieser Leute eine neue Identität. "Zerstört die Städte und tötet die Bastarde", schrieb Karadzic damals in einem seiner Gedichte. Als Sammler sowie Komponist serbischer Volkslieder offenbarte er eine national geprägte Identität. Die "Bastarde", die Menschen aus Mischehen oder einfach jene, die traditionsbewusst und tolerant waren, nahmen den spinnigen Psychiater offenbar nicht ernst genug.
Rabiater Nationalist
Aber dieser Hintergrund erklärt noch nicht alles an seiner Mutation zum rabiaten Nationalisten. "Die erfolgte in einem schrittweisen Prozess ", sagt der Literaturwissenschaftler Marko Vesovic, der ebenfalls aus Montenegro stammt und anfänglich enger Weggefährte Karadzic war, dann sich aber von ihm abwandte und seit Kriegsbeginn zu seinen schärfsten Kritikern gehört.
Als das kommunistische System 1990 Mehrparteienwahlen ermöglichte, zögerte Karadzic noch, erklärt Vesovic. Zunächst sei Karadzic einer der Gründer der in Bosnien bedeutungslos gebliebenen "Grünen Partei" gewesen, bevor er sich der serbischen Nationalpartei, der "Serbischen Demokratischen Partei" (SDS) anschloss.
Anfang 1992 schlug die Stunde von Radovan Karadzic als Politiker, der Geschichte machen sollte. Zum Präsidenten einer "Regierung der bosnischen Serben" gewählt, verhärtete sich der blendende Redner zusehends. Auf einer Welle der Kriegsbegeisterung unter seinen Anhängern schwebend, drohte er schon damals mit der Vernichtung der Muslime Bosniens. Am 6. April 1992 griffen die Truppen seines Armeechefs Ratko Mladic an und eroberten mit der Unterstützung der jugoslawischen Armee und Freischärlergruppen aus Serbien etwa 70 Prozent des Landes im Kampf gegen die überraschten und wenig vorbereiteten Gegner, steckten sie in Konzentrationslager und ermordeten schon lange vor Srebrenica zehntausende von Menschen.
Karadzic war auf dem Höhepunkt seiner Macht. "Und das gefiel ihm zusehends", sagt Vesovic, "wie alle meine Landsleute aus Montenegro strebt er danach, etwas Besonderes zu sein." Er sei von der Macht geblendet gewesen, ein Herr über Leben und Tod. Als Präsident der "Serbischen Republik" sei er von vielen internationalen Politikern als wichtiger Gesprächspartner akzeptiert worden. Das schmeichelte ihm. Und dann wagte er es sogar, den serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic herauszufordern und sich mit dessen Gegner zu verbünden.
Nach dem Massaker von Srebrenica und der dann folgenden militärischen Niederlage der bosnischen Serben 1995 war es aber Milosevic, der die Zügel in die Hand nahm und für die bosnischen Serben bei den Friedensverhandlungen in Dayton 1995 auftrat. Karadzic Stern begann zu sinken. Als schließlich im Juli 1996 das Internationale UN-Tribunal für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien in Den Haag ihn als Kriegsverbrecher anklagte, musste er klein beigeben. Er verzichtete auf alle Ämter und musste zusehen, wie seine Stellvertreterin und Vertraute Biljana Plavsic sich zur Präsidentin der Republika Srpska wählen ließ und ihn kurz darauf der Korruption beschuldigte.
Doch Karadzic hielt noch einige Trümpfe in der Hand. Der Volkstribun war für viele Serben zum "Volkshelden" aufgestiegen. Und er verfügte auch nach seinem Abtauchen über treue Anhänger bei der serbisch-bosnischen Polizei, den serbischen Geheimdiensten, in der orthodoxen Kirche sowie bei den Kriegsgewinnlern und all jenen, die selbst im Krieg Verbrechen begangen hatten. Es entstand ein Netzwerk aus Unterstützern, die ihn auf intelligente Weise, aber auch mit Geld und Gewaltandrohungen abschirmten.
Jeder Serbe, der Karadzic verraten wollte, wusste, dass er dies nicht überleben würde. Die USA blieben auf den 5 Millionen Dollar Kopfgeld sitzen. Ihm zu Hilfe kam, dass die Institutionen der internationalen Gemeinschaft zudem über Lecks verfügten und sich bei der Suche nach den untergetauchten Karadzic und Mladic oftmals gegenseitig behinderten. So wurden mehrere Aktionen internationaler Truppen aus den Reihen der internationalen Organisationen an Karadzic verraten. Zudem fürchteten internationale Diplomaten, nach seiner Verhaftung könnte es zu Aufständen der serbischen Bevölkerung und zu Anschlägen auf die internationalen Truppen kommen.
Der "Doktor", wie die Menschen ihn nannten, wurde zum Phantom, zur serbischen Legende, zum Untergrundhelden. Eine Rolle, die ihm gefallen musste. Er fühlte sich so sicher, dass er gelegentlich beim St-Veits-Tag (Schlacht auf dem Amselfeld) öffentlich auftrat oder Cafés besuchte. Bosnisch-serbische Polizisten erklärten öffentlich, sie würden ihren Doktor niemals festnehmen, geriete er in eine Polizeikontrolle.
In seinen wechselnden Verstecken von Belgrad, Bosnien und Montenegro entwickelte Karadzic eine rege Tätigkeit, schrieb und publizierte sogar Kinderbücher. Und konnte sich solange sicher fühlen, solange die Regierungen der serbischen Teilrepublik in Bosnien und die Regierung Serbiens ihre schützende Hand über ihn hielten. Beide Regierungen versprachen zwar der EU, sie wollten die Kriegsverbrecher festnehmen, wenn sie es könnten. Aber sie taten es nicht. Dass Radovan Karadzic sich auch nach dem Machtwechsel in Belgrad aufhielt, macht deutlich, wie sicher er sich fühlen konnte. Bis Montagnacht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Gespräche in Israel über Waffenruhe
Größere Chance auf Annexion als auf Frieden
Krieg in der Ukraine
USA will Ukraine Anti-Personen-Minen liefern