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Archiv-Artikel

Mutationen und Metamorphosen

Anlässlich der Erstaufführung der neuen Matthew Barney-Filmskulptur „Drawing Restraint 9“ zeigt das Abaton-Kino alle fünf Teile des siebenstündigen „The Cremaster Cycle“ des US-amerikanischen Medienkünstlers hintereinander

So., 11.6., 11 Uhr: Cremaster 1+2; 13.30 Uhr: Cremaster 3; 17 Uhr: Cremaster 4+5. Abaton-Kino, Allende-Platz 3

Seit Donnerstag zeigt das Abaton-Kino die Kinoskulptur „Drawing Restraint 9“ des US-amerikanischen Performers, Tänzers und Medienkünstlers Matthew Barney. An Bord des japanischen Walfangschiffes Nisshin Maru – der letzten Walfabrik der Welt – wagt sich der New Yorker zusammen mit seiner Lebensgefährtin Björk hinaus auf einen Ozean voller rätselhafter Ereignisse und handelt in gewaltigen blut- und vaselinereichen Tableaus voller Metamorphosen und mythischer Anspielungen von der Walwerdung zweier Liebender. Björk liefert dazu den sphärischen Soundtrack.

Aus diesem Anlass zeigt das Kino am Sonntag noch einmal alle fünf Teile des 400 Minuten langen Mammutprojekts „The Cremaster Cyclus“ – ein Zwitterwesen zwischen Kunst-Installation und Kinofilm, von dem Michael Kimmelman in der New York Times meinte, es sei „sowohl vom Ehrgeiz und Umfang des Projekts her, wie auch aufgrund seiner provozierenden Direktheit, ein Meilenstein für die Kunst des neuen Jahrtausends“.

Über acht Jahre brauchte Barney denn auch für die Fertigstellung seiner aus insgesamt fünf Teilen bestehenden Filmskulptur. Jeder der nicht in chronologischer Reihenfolge gedrehten Filme funktioniert dabei zwar als in sich geschlossenes Werk mit je eigener Ästhetik – zusammengenommen ergeben sie jedoch ein in sich geschlossenes System, in dem die einzelnen Teile sich untereinander ergänzen und einzelne Motive immer wieder aufgegriffen werden.

Konzeptioneller Ausgangspunkt des Gesamtwerkes ist der titelgebende Musculus cremaster oder Hodenheber. Dieser ist für das Heben und Zusammenziehen der Hoden zuständig, reguliert auf diese Weise die Temperatur und befördert die Spermatogenese. Hervorgerufen wird seine Aktivität – das ist Barneys zentraler Punkt – nicht durch Willenskraft, sondern durch Angst, Kälte oder sexuelle Erregung. Die damit angedeutete sexuelle Komponente findet im gesamten Werk ihren Niederschlag etwa in immer wieder auftauchenden asexuellen Fabelwesen, skulpturalen Darstellungen von Sexualorganen oder einer weißen, klebrigen Substanz, die in jedem der einzelnen Teile an prominenter Stelle auftaucht.

Obwohl der „Cremaster Cycle“ streckenweise durchaus filmisch arbeitet, erzählt er dennoch keine Geschichte. Eher handelt es sich um eine scheinbar zusammenhangslose Aneinanderreihung von akausalen Tableaus, die fast vollständig auf das gesprochene Wort verzichten. Statt einer Narration fungieren über den Globus verteilte, beunruhigend künstlich und unwirklich inszenierte Schauplätze mit sowohl barockem wie auch futuristischem Dekor – das Chrysler-Gebäude, die Rocky Mountains oder die Isle of Man – als Ausgangspunkte für die auf das Minimalste reduzierten Handlungen der Protagonisten. Die Erzählung findet sich eher in der Bewegung dieser Räume, der Einfaltung und Ausfaltung von Fläche und Körper.

Der Film mit seinen Regeln fungiert dabei gewissermaßen lediglich als Gastkörper für die opulente visuelle Sprache Barneys. Klassische Erzählmuster werden ebenso dekonstruiert wie tradierte Vorstellungen von Schönheit und Reproduktivität, wobei sich Barney nicht scheut, hin und wieder die Grenze zum affirmativen Kitsch zu überschreiten.

Insofern hat man es statt eines narrativen Kinofilms mit einer gefilmten Performance-Serie zu tun, in der der narzisstische Künstler selbst nebst seines formenden und geformten Körpers eine zentrale Rolle spielt. In fast jedem Teil der „Cremaster“-Serie taucht Matthew Barney – meist als muskulöses Fabelwesen – selbst auf. Ganz auf sich allein hat sich Barney indes nicht verlassen. Eine ganze Reihe von illustren Gästen bevölkern die filmische Skulptur. Ursula Andress etwa tritt im letzten Teil als Königin der Ketten auf, Künstler Richard Serra mimt im dritten Teil den Architekten des Chrysler-Buildings.

ROBERT MATTHIES