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Mut zum Klischee-TourismusRollkoffer sind geil

Kommentar von Franziska Seyboldt

Schön über's Kopfsteinpflaster rattern: In Städten ist es eh laut, da stört das nicht. Und auf Backpacker-Nackenschmerzen kann ich verzichten.

Krrrrrrrrrr: Dieses schöne Kopfsteinpflaster in Rom wartet doch nur darauf, bearbeitet zu werden Foto: dpa

E s war im letzten Sommer. Wir kamen gerade aus dem Urlaub zurück und bogen in unsere Straße ein, mit Sand in den Schuhen und Salz in den Haaren, als uns eine Männerstimme aus einem der oberen Stockwerke jäh zurück in die Gegenwart katapultierte: „Scheiß-Touristen!“

Mein Freund behauptet, der Mann habe „Scheiß-Rollkoffer!“ gerufen, aber eigentlich ist es auch egal, denn die beiden Wörter sind seit Jahren so eng miteinander verbunden, dass es ein Wunder ist, dass sie im Duden noch nicht als Synonym aufgeführt werden.

Der Rollkoffer ist das Hassobjekt deutscher Großstädter. Er hat die Sphären seiner ursprünglichen Bedeutung eines Transporthilfsmittels längst verlassen, er ziert Titelseiten zur Ausbeutung Beschäftigter in der Tourismusindustrie und Berliner Hauswände („No more Rollkoffer!“), er ist Symbol für billige Fluglinien, elitäres Businessgehabe und eben vor allem: für nervige Touristen.

Ja, Touristen nerven.

Touristen sind immer besoffen, Touristen stehen links auf der Rolltreppe oder mit einer Faltkarte mitten auf dem Gehweg, Touristen blockieren mit Segways die Fahrradspur, Touristen betrinken sich auf Bierbikes, Touristen haben nachts Angst in der U-Bahn, Touristen tragen Funktionskleidung, Selfiesticks und das Smartphone an einer Kordel um den Hals, und sie rattern mit Rollkoffern frühmorgens über Kopfsteinpflaster, um ihren Flieger zu erreichen.

Einerseits.

Andererseits sind wir alle Touristen, jedenfalls von Zeit zu Zeit. Und wenn wir in einer fremden Stadt trotzdem freundlich behandelt werden, vielleicht sogar ungefragt Hilfe angeboten bekommen, weil wir planlos in der Gegend stehen, dann schwärmen wir später von der Gastfreundschaft und der Wärme in diesem Land. Daran könnte man sich durchaus ein Beispiel nehmen, wäre man nicht so stolz auf die eigene Arroganz und hätte die Stadt am liebsten für sich allein.

Und was die tatsächlich unselige Kombination von Rollkoffern und Kopfsteinpflaster betrifft: Lärm gehört zu einer Großstadt nun mal dazu, ob man will oder nicht. Dazu muss man nicht in der Einflugschneise wohnen oder einen Schrebergarten neben den Bahnschienen haben, es reicht eine ganz normale Wohnung in einem Mehrfamilienhaus, vor allem im Sommer bei geöffneten Fenstern.

Je nachdem, ob man zur Straße hin oder im Seitenflügel wohnt, hört man die unterschiedlichsten Dinge – im Hof hat man mehr von den Nachbarn, vorne mehr von der Straße, aber ruhig ist es so gut wie nie.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Da ist der Dreijährige, der „Lüü-lüü-lüü“ rufend zwei Stunden auf seinem Dreirad um den Sandkasten fährt. Die Nachbarin, die morgens um 6 eine einzelne Weinflasche in den Altglascontainer wirft. Der Junkie, der laut pöbelnd durch die Straßen zieht. Der Hund, der jeden Tag eine Stunde lang bellt und jault, weil seine Besitzer ohne ihn das Haus verlassen haben.

Die Nachbarin, die von morgens bis abends pfeift. Der Müllmann, der mit klapperndem Schlüsselbund jede Eingangstür der Straße aufsperrt. Das Pärchen, das regelmäßig um 3 Uhr nachts sehr ausführlich Sex hat. Und der Vater, der seinem Kind durch die Wohnung zuruft: „Ich kann jetzt nicht, ich sitze auf dem Klo!“

Mit einem Wanderrucksack verrenkt man sich den Nacken

Irgendwoher ist es immer laut in der Stadt, und oft ist das schön und lustig und schult in Toleranz. Und manchmal nervt es kolossal. Aber das Rattern der Rollkofferräder transportiert wenigstens nicht nur Straßendreck, sondern auch einen Moment der Verheißung – auf den nächsten Urlaub, den nächsten Besuch der Fernbeziehung oder zumindest das nächste Feierabendbier. Mal abgesehen davon gibt es zu dem Rollkoffer keine vernünftige Alternative.

Vor ein paar Jahren habe ich mir eine Reisetasche zugelegt, ein edles Teil aus braunem Leder, und sah mich schon wehenden Haares aufregende Wochenendtrips in fremde Städte unternehmen. In der Realität verursacht das wechselseitige Tragen einer Reisetasche, die mit Kleidern, Kosmetikbeutel, Büchern und Laptop gefüllt ist, im besten Fall einen Muskelkater, im schlimmsten Fall eine Sehnenscheidenentzündung.

Und den verrenkten Nacken, nachdem ich als Jugendliche eine Woche in Südfrankreich zelten war, habe ich dem Backpackerrucksack bis heute nicht verziehen.

Regt euch über andere Dinge auf

Der Rollkoffer hingegen ist wahnsinnig praktisch: Er spart Kraft, Arztkosten und Nerven. Wird es unterwegs zu warm, hängt man den Mantel über den Ausziehgriff und hat immer noch eine Hand frei. Auf dem aufrecht stehenden Koffer ist Platz genug für Rucksack oder Handtasche (oder die Tüte mit dem Reiseproviant), sodass man beim Warten nicht in Verlegenheit kommt, irgendetwas auf den Boden legen zu müssen.

Oder man setzt sich einfach selbst obendrauf, wenn der Zug Verspätung hat.

Und außerdem: Wir fahren Auto, Fahrrad, Skateboard und E-Roller, aber der Koffer darf um Himmels willen den Boden nicht berühren?

Anstatt Rollkoffer zu verteufeln, könnte man seinen Hass auch auf jene richten, die es verdienen: Menschen, die ihren Müll auf der Wiese im Park liegen lassen, obwohl genügend Mülleimer vorhanden sind. Taxifahrer, die viel zu schnell durch Fahrradstraßen rasen. Oder Passanten, die im Gehen mal eben den Kopf zur Seite drehen und auf die Straße kotzen.

Und man könnte sich freuen, dass trotz alledem immer noch Leute Lust haben, die Stadt zu besuchen. Ja, genau – die bösen Touristen.

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taz am wochenende
Jahrgang 1984, Redakteurin der taz am wochenende. Bücher: „Rattatatam, mein Herz – Vom Leben mit der Angst“ (2018, KiWi). „Theo weiß, was er will“ (2016, Carlsen). „Müslimädchen – Mein Trauma vom gesunden Leben“ (2013, Lübbe).
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8 Kommentare

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  • "Mal abgesehen davon gibt es zu dem Rollkoffer keine vernünftige Alternative." Doch, na klar! Wer schon mit Koffer in den Urlaub muss, kann sich auch standesgemäß mit einem Taxidienst, einer Rikscha oder einem Huftiergespann zu seiner Unterkunft in der Stadt karren lassen. Alle anderen sind eben genügsam oder fit genug, mit einer Tasche oder einem Rucksack klarzukommen. Oder ist dann der Geiz doch wieder geiler (Geld für Taxi???). Echt seltsame Argumentation. Wohin das führt, kann man heutzutage schon bei Klassenfahrten von Grundschülern beobachten: da werden Rollkoffer in Busse gewuchtet, als ob die lieben Kleinen die komplette Große Abendgarderobe dabeihätten. Dabei fahren die nur 3 Tage in ein Landjugendheim und werden dort vor der Haustür ausgekippt. Zeit zum downgraden, sonst sag ich's Greta! ;-)

  • Das nennt man wohl „Whatsboutism“ Conwayscher Art.

    Weil alles Andere in der Stadt schlimm ist, darf man dich über den Missbrauch von Rollkoffern nicht aufregen. Mies argumentiert, klingt auch irgendwie nach Sarrazin.

    Ich würde ja in der Bahn auch nicht so laut mit dem Smartphone telefonieren, wenn es da nicht so viele Nebengeräusche hätte ... gelle?

    Nieder mit den Kofferrollern (wo bleibt der eKoffer? In China gibt es den schon).

  • Gibt Leute, denen fehlt einfach die Kraft für einen Rucksack; Alte, Kranke u.a. Von 4 Backpackern den Rucksack bei jeder Drehung in die Fresse zu kriegen ist auch nervig. Menschenaufläufe wie am Bahnhof oder Flughafen sind anstrengend. Deshalb bräuchte es etwas Toleranz, um einigermaßen entspannt da wieder rauszukommen und nicht zum assigen Arsch mutiert zu sein. Diese fehlt wohl einigen.

  • Es ist schön, dass Flugreisen trotz CO2-Ausstoss nicht von sämtlichen taz-Redakteuren verteufelt werden. Man braucht also kein schlechtes Gewissen zu haben, wenn man mit dem Rollkoffer in New York, Rio oder Tokio unterwegs ist.

    Auf der Reise rund um die Welt lernt man fremde Länder und interessante Kulturen kennen und lieben. Die USA sind ein beispielsweise ungleich bunter und liebenswerter, als man denken könnte, wenn man Trump im Fernsehen sieht.

    Tiere wie Kängurus und Koala-Bären in Freiheit, in ihrem natürlichen Lebensraum in Australien zu sehen, übertrifft jeden Zoobesuch in Europa bei weitem. Das sollte jeder Mensch mal erlebt haben.

    Hinzu kommt noch die Schönheit der Natur auf den Malediven, Hawaii oder in der Karibik, neben der jede teure Bahnreise nach Sylt wie eine Fahrradtour zum Baggersee wirkt.

  • Ich hoffe inständig, dass die Autorin nicht in den Urlaub geflogen(!) ist. Sollte sie geflogen sein bitte ich die taz den Artikel sofort zu entfernen und Greta bescheid zu geben.

  • Tja, so was nennt die Wissenschaft "Prägung".



    Saudumm, wenn die Autorin hier durch die Erfahrung mit einer "Haribotüte mit Trägern" statt mit einem tauglichen, Rucksack "geprägt" wurde.



    Möglicherweise auch Ergebnis einer "Geiz-ist-Geil" Haltung?



    Ich hatte für meinen "Wanderrucksack" der Fa. Lowe in einem Hamburger Fachgeschäft vor ca 40 Jahren auch damals schon "unverschämte" ca 300DM bezahlt. - Und diese Ausgabe bis heute nie bereut.



    Zu Einzelheiten siehe den Kommentar von "Jim Hawkins", "Das hohe Lied des Rucksacks"

  • 9G
    97088 (Profil gelöscht)

    Was hier inhaltlich so genau kommentiert wird erschließt sich mir nicht wirklich. Wohl eher eine Kolumne. Füllt schön den Platz, denn wichtige politische Themen, die in der TAZ kommentiert werden sollten und müssten gibt es scheinbar nicht.



    Übrigens: Ich hasse Rollkoffer! Und die Menschen, die sie nutzen und bedienen sind Deppen, die durch Unachtsamkeit, Gleichgültigkeit oder einfach nur durch Ignoranz gefährliche Stolperfallen hinter sich her ziehen. Wer sich in der rush-hour in Bahnhöfen bewegt, benötigt 70% Aufmerksamkeit, um nicht über diese blöden Dinger zu stürzen. Am schlimmsten sind die Businessmenschen, die davon meist zwei haben und beim herumlatschen auch noch telefonieren. Die verbrauchen Fläche für drei (übrigens auch im Zug) und denen sind die Restmenschen völlig egal. Ach - jetzt weiß ich nicht recht: Liegt mein Ärgernis an den Rollkoffern oder an den Rollkofferbediendeppen?

  • 8G
    88181 (Profil gelöscht)

    Das hohe Lied des Rollkoffers mag ich nicht singen. Eine neues Lied, ein besseres Lied will ich singen.

    Das hohe Lied des Rucksacks. Der, ist er hochwertig und richtig eingestellt, keine Nackenschmerzen verursacht. Vielmehr schmiegt er sich freundlich an den Rücken und fühlt sich an wie ein Körperteil.

    Richtig gepackt und wiederum richtig eingestellt, begleitet er mich stundenlang auch auf verschlungenen städtischen Pfaden. Ganz ohne Sehnenscheidenentzündung. Fällt der Bus aus, kein Problem, laufe ich eben den Kilometer.

    Und, ich habe beide Hände frei, was gut ist bei der Bedienung von Automaten, Einkäufen jeder Art und bei der möglicherweise notwendig werdenden Abwehr von Ganoven, die mir an den Rucksack wollen.

    Machen Sie das mal mit einem Rollkoffer.

    Die Airbnb-Wohung ist im 5. Stock ohne Aufzug. Kein Problem. Ich steige hinauf wie auf einen Zweitausender.

    Das Rollkoffertum ist das Gegenteil von Individualismus. Rollköffler treten meistens im Rudel auf, rattern entsprechend und gehen jedem auf den Geist.

    Wie eine Katze schleiche ich an dieser unangenehmen Begleiterscheinung des mordernen Reisens vorbei. Übrigens, wir Rucksäckler grüßen uns, begegnen wir uns in der Fremde, wie die Motorradfahrer mit einem kleinen Fingerzeig.