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Musiktheater von Schorsch KamerunSingen stärkt das Gemeinwohl

Mit „Der diskrete Charme der Reduktion“ schickt Schorsch Kamerun das Publikum im „Vollgutlager“ Berlin durch einen Parcours der Nachdenklichkeit.

Annemaaike Bakker vor einem großen gelben Gummiball in „Der diskrete Charme der Reduktion“ Foto: Jaro Suffner

„Irrweg der Menschheit“ ist der Titel eines Essays, verfasst vom italienischen Philanthropen Aurelio Peccei und dem schottischen Chemiker ­Alexander King. Als Grundübel des scheinbar unendlichen Wirtschaftswachstums machten sie darin 1968 fehlendes Verantwortungsgefühl für die Zukunft des Planeten Erde geltend.

Jener „selbstmörderischen Ignoranz“ setzten sie dann mit Gründung des Thinktanks „Club of Rome“ fundiertes Wissen entgegen. Ihre Grundüberlegungen sind anlässlich des fortschreitenden Klimawandels dringlicher denn je: Ihre Forderung ist, eine globale und langfristig gültige Perspektive zum Schutz der Umwelt zu entwickeln und diese um eine Reihe sich gegenseitig bedingender ökonomischer, ökologischer und sozialpolitischer Problemlösungen von Industrialisierung, Bevölkerungswachstum und Ernährung zu ergänzen.

„Wie lange wollen wir noch weiterwuchern“, fragt Regisseur Schorsch Kamerun mit Blick auf die aus allen Nähten platzenden Städte und stellt jenen „Irrweg der Menschheit“ in seiner im Auftrag der Komischen Oper Berlin inszenierten begehbaren Konzertinstallation namens „Der diskrete Charme der Reduktion“ als rhapsodisches Unlustspiel dar.

Wie einst bei TV-Show „Spiel ohne Grenzen“

Darin sind die Trennung zwischen Bühne und Publikum, Hoch- und Popkultur beseitigt. Austragungsort ist im Neuköllner Rollbergkiez, das Vollgutlager mit seinem Fertigungshallen-Ambiente. Dort hat Kamerun einen Parcours aufgebaut. Dessen Stationen erinnern an Geschicklichkeits-TV-Shows wie „Spiel ohne Grenzen“.

Der diskrete Charme der Reduktion

Wieder am 24. & 25. 2. 2023, jeweils um 18 Uhr, „Vollgutlager Neukölln“, Berlin

Was mit seiner Band Die Goldenen Zitronen beim Schaumbaden im Exzess oft lässig wirkte, fühlt sich nun bei Kameruns Überlegung, wie sich der ökologische Fußabdruck reduzieren ließe und dem Fair-Trade-Siegel zu entsprechen wäre, eher melancholisch und manchmal auch zerknirscht an.

Kamerun unterlässt jeden Anflug von Weinerlichkeit, an verschiedenen Stellen taucht er als Conférencier auf und macht das, was er gut kann: Unsympathen aufzählen, wie Autokraten, Stammtischpolitiker und Panikmacher, „die nicht aufhören“, bis endlich ein Fagott-Solo ertönt; zwischendurch ruft er Denkfiguren ab, wie das Punkurviech im Nietengürtel, das sich eben keine Gedanken über ungerecht verteilten Wohlstand macht, sondern sein Hefeweizen stur weitertrinkt.

Paraderolle das verrückte Huhn

„Der diskrete Charme der Reduktion“ bietet Musik, Choreografie, Texte und serielles Erzählen komprimiert auf Konzertlänge. Als Sänger der Goldenen Zitronen ist das verrückte Huhn eine Paraderolle Kameruns. Auch diesmal hechelt er oft und sorgt bei aller dargestellter Alternativlosigkeit damit gelegentlich für Heiterkeit.

Neu arrangierte Songs aus dem Repertoire der Zitronen stehen neben der Bach-Kantate „Ich habe genug“, Standards aus dem Theaterfundus (alles wird auf einer Leinwand übertragen und somit medial vermittelt) und der Arrangement-Glanzleistung des Komponisten PC Nackt (und Partner von Kamerun beim Projekt Raison).

PC Nackt hat Musik und Geräusche auf der Tonspur in Fluss gebracht und führt diese mit sieben Mu­si­ke­r:In­nen aus dem Ensemble der Komischen Oper Berlin auf. Das Publikum, versehen mit blau leuchtenden drahtlosen Kopfhörern, wandert im Kreis durch dieses Resilienz­geschehen. Es muss navigieren zwischen rollenden gelben Gummibällen, grünen Wachhäuschen, in denen mal Kamerun als Nachtwächter Thomas Sehl (so sein bürgerlicher Name) amtet, mal der Tenor Ivan Turšić singt und die holländische Schauspielerin Annemaaike Bakker Zeilen deklamiert wie „Natur verhandelt nicht, sie stellt Fakten auf“.

Zierbäume umdrapieren

Ein Haufen Umzugskisten, die immer aufs Neue gestapelt werden, Zierbäume auf einem Podest, die umdrapiert werden, alte Modepuppen und ein mobiles Labor, in dem Weißkittel in der Petrischale Substanzen untersuchen, stehen als Hindernisse im Weg. Dazwischen strampelt sich ein Michelin-Männchen ab. Sogenannte „Goethe-Ameisen“ singen catchy von „Psycho, Panik, Plastik“, während Kamerun über Müllkippen und Kinderkrippen sinniert und Gedanken von Neuköllner Bür­ge­r:In­nen zum Charakter des Viertels wiedergibt, das von ihnen „als sehr durchwachsener Ort“ empfunden wird.

„Wenn Raum allen gehört, wer kümmert sich dann um den öffentlichen Raum?“, fragt Kamerun einmal. Der ehrenamtliche Neuköllner Richardchor führt kongenial vor, dass auch Singen das Gemeinwohl stärkt.

Etwas off-topic dagegen wirkt Kameruns Exkurs zum Pazifismus, den er angesichts des Ukrai­ne­kriegs als „aus der Zeit gefallen“ besingt. Man möchte ihm recht geben, nur, nach den vielen Anklängen an „die Grenzen des Wachstums“ und die Auswüchse des Klimawandels in Neukölln, ist die Aufzählung von Panzertypen wie Marder in diesem Zusammenhang zu viel des Gutgemeinten.

Die Musikauswahl war ansonsten stimmig: Zum Finale kann dem Zitronen-Evergreen „Wir verlassen die Erde“ das kammermusikalische Setting nichts anhaben, was einmal mehr für die Nachhaltigkeit des Songs spricht. Der Richardchor bekommt am Ende den meisten Applaus.

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