Musiktheater über soziale Klassen: Wir sind doch alle Mittelschicht!
„Die große Klassenrevue“ von Christiane Rösinger feiert im Berliner HAU1 Premiere. Mit Brecht-Habitus und einem Touch von Sesamstraßensongs.
Diese arme höhere Tochter! „Ich wäre so gern wie ihr: Working Class!“, singt sie – aber der Drops ist definitiv gelutscht: Einmal aus gutem Hause, immer aus gutem Hause.
In Christiane Rösingers „großer Klassenrevue“, die am Mittwoch im HAU 1 Premiere feierte, geht es um soziale Klassen. Und zwar größtenteils in Reimform, und zu Livemusik: Auf der Bühne steht eine Gruppe von Menschen, die aus der Arbeiterklasse im Osten und Westen, aus migrantischen Familien oder einem bäuerlichen Umfeld (Rösinger selbst) stammen.
Zunächst beantworten diese in einer „Rallye“ Fragen zu ihrer Herkunft, um herauszubekommen, wer denn eigentlich das Recht hat, sich zur Arbeiterklasse zu zählen: „Hast Du je neue Kleidung bekommen?“, „Hast du ein Musikinstrument gelernt?“, „Gab es bei Euch Bücher?“, „Bist Du mit Deinen Eltern in den Urlaub gefahren?“ heißt es – und damit wird klar, wie unterschiedlich soziale Missstände wahrgenommen werden: „Ich sollte immer neue Klamotten tragen, um meine Herkunft zu verschleiern“, antwortet Minh Duc Pham, und muss dafür trotzdem eine Runde aussetzen. Am Ende bleiben sechs Performer:innen übrig, aber ganz so einfach ist es auch nicht: Die Gruppe reimt „Ich finde meine Klasse nicht – wir sind doch alle Mittelschicht!“. Oder sind sie doch „Bohéme“?
Rösinger und ihre Performer:innen singen von der „Verachtung von unten“, mit der als „arm“ geltende Menschen auf „Reiche“ schauen, und postulieren: „Ich verzeih Euch nicht“. Brecht-Zitate und -Habitus ziehen sich durch die gesamte Show, dazwischen erinnert die Revue mal an das Grips Theater, mal an die eifrig-spaßigen Erklärsongs der Sesamstraße – all das passende und großartige Referenzen.
Manieren abgewöhnen, um dazuzugehören
Die „höhere Tochter“ (Julie Miess) dagegen hat’s schwer: Damit sie endlich zur – ihrer Ansicht nach – viel spannenderen Gruppe der Prekären gehören kann, versuchen diese ihr das fürnehme Sprechen und die Manieren abzugewöhnen. Zur Melodie von „Es grünt so grün wenn Spaniens Blüten blühen“ bringen sie ihr als ulkige Umkehrung des „My Fair Lady“-Themas in Rösingers badischem Heimatdialekt „S’isch wie’s isch“ bei und freuen sich, als die höhere Tochter endlich mundartelt: „Mein Gott jetzt hat sie’s!“.
Eine in säuregrün gekleidete „Neiddebatte“ (Stefanie Sargnagel) kann das Problem auch nicht lösen. So umrahmen die Lieder, deren Melodien bekannte Songs zitieren, die – nicht neue, aber wahre – Erkenntnis, dass weder wirklicher „Aufstieg“ (durch Bildung) noch „Abstieg“ (durch Interesse) möglich ist: Obwohl Definition und Distanz verschwimmen, wartet auf die Reichen am Ende immer irgendwo ein Nachkriegserbe.
Die Schärfe und Bitterkeit von Brecht, oder die Immersion anderer Stücke zum Thema, etwa „Oratorium“, in dem die Performancetruppe „She She Pop“ seit 2017 regelmäßig Zuschauer:innen einbindet und den (Un-)Gerechtigkeits-Disput so (zuweilen unangenehm) persönlich und nachhaltig macht, kann und will die unterhaltsame Revue nicht erreichen: Rösingers Waffen sind Humor, Lakonie und Verse. Das bewahrt die Performer:innen nicht nur vor jeglichem „Victimizing“, sondern macht die Diskussion auch für sämtliche Klassenzugehörigen zugänglich.
Dass jedoch andere „Ismen“ kaum vorkommen, nur sehr kurz in Form von Rassismus in Minh Duc Phams „Wenn du ein Junge aus dem Erzgebirge bist, und deine Eltern aus Vietnam stammen“ oder einem Beitrag von Sila Davulcu, ist angesichts des Diskurses über Intersektionalität schade: Müsste man nicht auch in einer konzentrierten „Klassenrevue“ und der Beschäftigung mit Gerechtigkeit zumindest erwähnen, dass manche Menschen mehrfach diskriminiert sind – etwa durch Rassismus, aufgrund ihres Aussehens oder häuslicher Gewalterfahrungen?
Dennoch: Wie die „Klassenrevue“ in guter alter Agitpop-Tradition am Ende das Lied der „Umverteilung“ zur Melodie von „Eternal Flame“ der Bangles singt und tanzt, das hat schon Hitqualitäten. Wie hieß es nochmal beim vielzitierten Brecht? „Will man Schweres bewältigen, muss man es sich leicht machen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!