Musiktheater auf Kampnagel: Erschöpfter Heiland
Das Kollektiv Kommando Himmelfahrt bastelt in „Die Speisung der 5000“ aus der biblischen Wundererzählung eine Studie über die Einsamkeit.
HAMBURG taz | Irgendwann wird es auch dem Heiland einfach zu bunt. Erschöpft vom permanenten Predigen und Wunderwirken, so berichten es alle vier Evangelien, zieht er sich mit seinen Jüngern in eine einsame Gegend zurück – um in Ruhe verschnaufen zu können. Aber auch dort wartet es schon: das Volk, voller Hoffnung, dass Jesus weiter predigt und heilt.
Am Abend kommt es zur wundersamen „Speisung der 5.000“: Als alle hungrig sind, vervielfältigt der Heiland einfach die verbliebenen fünf Brote und zwei Fische – am Ende sind alle satt. Aber Jesus hat wirklich genug vom permanenten Wunderdruck: Noch weiter flieht er vor den Menschen, in eine verlassene Berglandschaft.
Es ist die eigentümliche Verknüpfung von Vervielfältigung und erschöpfter Müdigkeit, die das aus dem Hamburger Komponisten Jan Dvorak, dem Berliner Regisseur Thomas Fielder und der Dramaturgin Julia Warnemünde bestehende Kollektiv Kommando Himmelfahrt vor zwei Jahren angeregt hat, aus der kurzen biblischen Wundergeschichte eine groß angelegte Musiktheater-Studie über die Einsamkeit im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit zu machen.
Am Freitag feiert „Die Speisung der 5000“ nun auf Kampnagel Premiere – illuster besetzt mit dem Selig-Sänger Jan Plewka, dem Schauspieler Peter Maertens, dem Hamburger Ensemble Resonanz, der Gruppe niedervolthoudini und dem vom Kommando Himmelfahrt gegründeten Kampnagel-Chor.
„Das Prinzip der Vervielfältigung hat uns interessiert, weil es nicht nur wunderbar, sondern auch zum Grundprinzip der digitalen Gesellschaft geworden ist“, erzählt Dvorak. Und in einem untrennbaren Zusammenhang mit der erschöpften Müdigkeit steht: „In der Geschichte steckt beides“, ergänzt Fiedler: „Einmal das Ausgeben, Säen, Verteilen und Vervielfältigen und auf der anderen Seite der Wunsch nach Rückzug. Das war für uns deshalb ein interessantes Bild, weil es einen Punkt betrifft, an den man in einer Massenvervielfältigungsgesellschaft selbst manchmal kommt.“
Und so ist der Heiland auf der Bühne immer mehr zu einem technischen Heiland geworden: Im 19. Jahrhundert beginnt die Geschichte des Menschensohnes Tom, gespielt von Jan Plewka, der mit der industriellen Revolution beginnt, die Welt zu verbessern und technische Wunder am laufenden Band zu ermöglichen und zu vermarkten: Vervielfältigungstechniken wie die Wachswalze, den Phonografen, die Telegrafie, schließlich den 35-mm-Film als Versuch, lebende Bilder herzustellen.
„Unser Tom bekommt sozusagen ein biblisches Alter“, sagt Fiedler. „Aber irgendwann kommt er an den Punkt, wo er sich zurückziehen möchte. Und wohin entflieht der moderne Mensch in seinen Träumen? In den Weltraum.“
Vom Mars aus schickt Tom nun Nachrichten an den Erzähler des Abends. Und als bislang letzte Nachricht, verpackt ins Morsealphabet: Tondokumente und Partituren für eine halbstündige Kantate, die nun live auf der Bühne aufgenommen wird.
Es ist eine merkwürdige Verschachtelung von Zeitebenen und theatralen Mitteln, die so entsteht. Denn was live auf der Bühne zu erleben ist, ist eine Aufnahmesituation: „Wir führen verschiedene Stränge in einer Art halber Gleichzeitigkeit zusammen, arbeiten mit Verschiebungen, die sich dann wieder einholen“, sagt Dvorak. Die Lesung der übermittelten Nachrichten, die reale Aufnahme der Kantate, die Szenen mit dem Menschensohn Tom auf dem Mars – all das wird in unterschiedlichen Geschwindigkeiten parallel geführt, verbindet sich und trennt sich wieder.
„Wir haben im Grunde unser Konzept eines kubistischen Musiktheaters weitergedacht“, erläutert Dvorak. „Das Stück ist eine halbe Stunde lang und eigentlich eine geschlossene Form. An dem Abend aber ist sie nur in einer perspektivischen Verwinkelung, Zerklüftung und Zerteilung zu erleben. Nur auf der Aufnahme wird man die Kantate in der Originalgestalt hören können.“
Klingt kompliziert. Aber Fiedler beschwichtigt: „An dem Abend entschlüsselt es sich sehr organisch.“ Und Dvorak ergänzt: „Es hat im Grunde etwas Romanhaftes. Man verfolgt die Geschichte über die Erzählung, über Einschübe und reale Aktionen auf der Bühne, die alles parallel führen. Es ist also eigentlich ein Entwicklungsroman, dadurch ist es leicht, das nachzuvollziehen.“
■ Fr, 12. 12., 20 Uhr, Kampnagel; weitere Aufführungen: 13. 12., 14. 12., 17. 12., 20./21. 12.
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