Musikhören gegen Demenz: Selbst schuld!
Es gibt allerlei Ratschläge, um Demenz vorzubeugen. Das suggeriert: Wer trotzdem erkrankt, trägt eine Mitschuld. Doch Gesundheit ist keine Privatsache.
J ede Zeit hat ihre Krankheiten, die in besonderem Maße die Ängste der Menschen anspricht. In der heutigen Zeit sind das vor allem degenerative Nervenerkrankungen, und hier wiederum besonders Demenz. Das liegt freilich einerseits daran, dass es immer mehr alte Menschen gibt und dementsprechend die Diagnose immer häufiger auftritt.
Es liegt aber auch daran, dass Demenz in der allgemeinen Vorstellung den sozialen Tod bedeutet: Man fällt heraus aus seinen sozialen Bindungen, weil man sich irgendwann nicht einmal mehr an die eigenen Allerliebsten erinnern kann, es reißen sozusagen die inneren Verankerungen des sozialen Netzes. Das liegt aber auch daran, dass diese Welt nicht nur nicht für demente Menschen gebaut ist, sondern geradezu gegen sie – wer nicht mehr in der Lage ist, zu verstehen, was eine Ampel ist und wie sie funktioniert, ist weniger wichtig als der reibungslose Verkehrsfluss.
Und das ist Teil dieser Angst vor Demenz: plötzlich weniger wert zu sein als der Subaru der Nachbarsfamilie. Vor diesem Hintergrund lesen sich die ganzen Ratschläge – es gibt dazu regalmeterweise Bücher und einen Berg an Studien – nicht mehr ganz so wohlmeinend, wie sie vermutlich gedacht sind. Beinahe wöchentlich erreichen eine*n neue Erkenntnisse, was alles einer möglichen Demenz vorbeugen könnte: kein Alkohol, nicht rauchen, Sudokus lösen (oder ähnliches, was manche Expert*innen im vollen Ernst „Gehirnjogging“ nennen), virale Infekte vermeiden, wenig Fleisch essen, Sport machen, Kaffee trinken (doch, doch, aber bitte nur in Maßen!). Zwei aktuelle Studien verweisen auf die positiven Effekte, die Musik und Mehrsprachigkeit haben sollen. Blockflöte spielen gegen die eigene Abwrackung! So wird aus jeder freudvollen Betätigung am Ende doch noch eine trockene Tugend.
Es spricht nichts gegen Prävention, Demenz ist auch in einer idealen Welt nichts Wünschenswertes. Diese wohlmeinenden Ratschläge haben aber einen moralischen Unterton: Wer sich nicht risikoarm verhalten hat, ist eben ein bisschen selbst schuld, wenn er oder sie dann erkrankt. Und entsprechend auch selbst schuld, wenn dann kein Platz mehr ist in der Gesellschaft: Denn dass die Welt so ist, wie sie nun einmal ist, hätte man ja auch vorher wissen können.
Die Verschiebung ins Private
Mit dem Rückbau der Sozialsysteme und auch der Gesundheitsfürsorge verschiebt sich die Verantwortung für die eigene Funktionalität mehr und mehr ins Private; und damit wird jede zwischenmenschliche Abhängigkeit potenziell zu einer Zumutung für nahestehende Personen. Eines der Hauptmotive, Sterbehilfe bei schwerer Erkrankung in Betracht zu ziehen, ist die Angst, jemandem zur Last zu fallen. Sterbehilfebefürworter*innen sprechen in diesem Zusammenhang auch davon, dass bisweilen das biografische Leben vor dem biologischen endet. Aber sollte man nicht eher andersherum fragen, warum es für manche Leben in dieser Gesellschaft kein Platz mehr gibt? Dazu gibt es leider keine Regalmeter an Ratgeberliteratur.
Der soziale Kontext einer Krankheit fällt auf ihren Verlauf zurück. Ich arbeite als Pflegekraft. Ältere Kolleg*innen aus der DDR erzählten mir oft, dass sie früher – also vor der Wende – bei dementen Personen kaum einmal aggressives Verhalten erlebt hätten. Der normale Verlauf sei eher ein Dahindämmern gewesen, diese sogenannten Problemfälle, die auch körperlich übergriffig werden, die hätten sie erst in den letzten zwanzig, dreißig Jahren gesehen – seither allerdings in zunehmendem Maße.
Man könnte hier ganz zynisch sagen: Angesichts all dieser Selbstoptimierungssuadas – Gehirnjogging! – sind regelmäßige Wutausbrüche vielleicht gar nicht Teil des Krankheitswerts, sondern eine völlig nachvollziehbare Reaktion.
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