Museumsdirektor über deutsche Identität: „Die Geschichte des Flickenteppichs“
Dieser Brite erklärt den Deutschen, wer sie sind: Ein Gespräch mit Neil MacGregor zum Erscheinen seines Buchs „Deutschland. Erinnerungen einer Nation“.
W as mich bei den Deutschen am meisten beeindruckt, ist der Umgang mit ihrer Geschichte“, sagt Neil MacGregor. „Die Briten stellen sich nicht gern ihren dunklen Kapiteln, die Deutschen schon.“ MacGregor ist international ein gefragter Museumsdirektor. Seine „Geschichte der Welt in 100 Objekten“ machte ihn berühmt, auch dank der Zusammenarbeit mit der BBC.
2014/15 stieß er mit der Schau „Germany. Memories of a Nation“ im British Museum in London zudem die Türen weit auf, um die Briten mit einer zeitgemäßeren Betrachtung der Deutschen und ihrer Geschichte zu konfrontieren. Den seit dem Zweiten Weltkrieg verbreiteten Klischees über Krauts, Nazis und Wirtschaftswunder stellte er – verkürzt gesagt – den Dreiklang von Goethe, Bauhaus und Buchenwald entgegen. Aufklärung, Moderne und Vernichtung.
Im Oktober 2015 wird Neil MacGregor die Gründungsintendanz des Berliner Humboldt-Forums komplettieren, die er dann zusammen mit Hermann Parzinger und Horst Bredekamp inne hat. Wie kühn und unerschrocken der Brite sich der Geschichte zu nähern pflegt, darüber gibt sein jetzt auf Deutsch erscheinender opulenter Band „Deutschland. Erinnerungen einer Nation“ Auskunft. Erneut exemplarisch, wie sich hier große Geschichte in kleineren symbolhaften Ausschnitten erzählen lässt, komplex und anschaulich zugleich.
MacGregors Forschung untersucht Phänome von Alltags- und Hochkultur, befragt und entschlüsselt einzelne Objekte auf ihre Entstehung und Bedeutung hin. Mit Geschichten über den VW-Käfer, die Deutschlandfahne, das Eiserne Kreuz, die Gutenberg-Bibel, Skulpturen von Käthe Kollwitz, Geldscheine oder die Krone Karls des Großen gelingt ihm so ein vielschichtiges und vor allem auch gut erfassbares Gesamtbild der Vorgeschichte der heutigen Bundesrepublik Deutschland. Bemerkenswert ist auch, mit welcher Unbekümmertheit der Brite sich hierbei den durch den Faschismus desavouierten preußischen Traditionen nähert und – wie auch schon der Historiker Christopher Clark – von linearen Geschichtsinterpretationen Abstand nimmt.
taz: Herr MacGregor, Sie bezeichnen die zersplitterte Ordnung des Heiligen Römischen Reichs (Deutscher Nation) als einen „Sieg der kreativen Fragmentierung“. Wie meinen Sie das?
Neil MacGregor: Der vielleicht schwierigste Aspekt, die deutsche Geschichte zu verstehen, bezieht sich auf die Geschichte des politischen Flickenteppichs. Man kann nicht von einer einheitlichen deutschen Geschichte sprechen, weil es sehr viele verschiedene Geschichten gab. Bis 1871, war entscheidend, ob man Bayer, Hamburger oder Preuße ist. Für uns war lange schwierig, das richtig zu verstehen. Die politische Fragmentierung wurde vor allem als Schwäche betrachtet, um spätere negative Entwicklungen zu erklären.
Sie spielen auf Debatten wie die über die „verspätete Nation“ an?
Ja. Man sah in der politischen Zersplitterung vor allem die Schwäche. Doch man erkennt heute, dass Spaltung und Zersplitterung auch große Verschiedenheiten und Freiheiten erlaubten, die es in früh vereinigten großen Zentralstaaten so nicht gab. Die Reformation hätte ohne die Zersplitterung nicht stattfinden können. In England und Frankreich konnten die Zentralmächte religiöse Abweichungen sofort ersticken. Die Unterschiedlichkeit Deutschlands mit seinen vielen Fürstentümern bedeutete letzten Endes für die Gesellschaften eine Stärke.
Die politische Zerklüftung, das Patt nach Bauern- und Dreißigjährigem Krieg als Voraussetzung für religiöse Toleranz?
Geboren 1946 im schottischen Glasgow. Lernte als 16-jähriger Austauschschüler Hamburg und die Bundesrepublik kennen. Kunsthistoriker. Übernahm 1987 die Leitung der National Gallery, London. Seit 2002 Direktor des British Museum. Ab Oktober 2015 einer der drei Gründungsintendanten des Humboldt-Forums in Berlin.
Nach dem Frieden von 1648 bestand das Heilige Römische Reich aus Regionen mit verschiedenen – erlaubten – Religionen. Das war für Frankreich und auch Großbritannien undenkbar. In Deutschland musste der Kaiser die Tatsache anerkennen, dass er Katholiken wie Lutheraner zu Untertanen hatte. Schwierig blieb allerdings in fast allen europäischen Gebieten die Lage der Juden.
Trotzdem mündete das, was Sie als das Tolerante beschreiben schließlich in einen aggressiven Nationalismus, ein repressives Wilhelminisches Kaiserreich und danach in das Dritte Reich der Nazis?
Genau, aber erst nach der Vereinigung. Die Durchsetzung einer solchen Intoleranz war nur durch einen stark vereinheitlichten und zentralisierten Staat möglich.
Wenn man eine Analogie ziehen wollte, so haben wir mit der uneinigen und zersplitterten Europäischen Union also derzeit eine ganz gute Situation?
Das ist die große Debatte. Ich glaube, dass die Deutschen wegen ihrer Geschichte dabei besser mit den Schwierigkeiten und offenen Fragen umgehen können, als Franzosen und Briten. Die wissen nicht, was sie mit den großen Verschiedenheiten in der EU anfangen sollen, sind ratlos.
Als Kunsthistoriker erzählen sie anhand von Gegenständen Geschichten aus der Geschichte. Etwa Herkunft und Bedeutung eines Objekts wie dem Eisernen Kreuz. Was würden Sie einem jungen Deutschen sagen, der sich heute ein Eisernes Kreuz auf die Haut tätowieren lässt?
Der prächtige Band „Deutschland. Erinnerungen einer Nation“ erscheint bei C. H. Beck, München. Er enthält 330 teils farbige Abbildungen. Gebunden, 640 Seiten, 39,95 Euro
Zunächst würde mich interessieren, was das Eiserne Kreuz für diesen Menschen bedeutet. Die erste Frage wäre immer: Was bedeutet es für ihn, was meint er oder sie damit? Mir geht es darum, die ursprüngliche Bedeutung und die Geschichte eines sehr bekannten Symbols zu beschreiben. Die Idee des British Museum, jeder Ausstellung und meines Buchs ist es immer, gegen Fremdenhass zu kämpfen. Dem Publikum die Möglichkeit zu geben, über die Objekte in einen Dialog mit sich, der Geschichte und der Welt zu treten. Im Sinne der Aufklärung seinen Blick als Weltbürger zu weiten, um andere besser zu verstehen.
Was symbolisiert das Eiserne Kreuz denn für Sie als Ausstellungsmacher und Historiker?
Es steht ursprünglich für die Idee einer Nation ohne Klassendistinktion. Es symbolisiert eine Gleichheitsidee in Preußen. Der Ursprung des Eisernen Kreuzes als einer Auszeichnung, einem Orden, liegt in den Befreiungskriegen gegen Napoleon und französische Besatzung. Aber auch für eine national-liberale Ideen in Preußen: die Beteiligung der Vielen sollte eine Nation von Gleichen in Freiheit schaffen. Die meisten Briten denken beim Eisernen Kreuz ausschließlich an die Deutschen im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Doch am Anfang war das Eiserne Kreuz mit Freiheitsidealen verknüpft, die allerdings verloren gingen.
In Ihrem Buch schreiben Sie auch über Weimar, Goethe, Bauhaus und KZ-Buchenwald. Was bedeuten diese Aspekte für Sie?
Die allergrößte Frage ist doch: Wie war es möglich, dass in einem Land mit Städten wie Weimar, der Tradition von Aufklärung (Goethe, Schiller) und der Moderne mit dem Bauhaus, das Dritte Reich triumphierte. Vor den Toren der Stadt Weimar befand sich das Konzentrationslager Buchenwald. Im Eingangstor findet sich die in ihrer Typografie an das Bauhaus angelehnte Inschrift „Jedem das Seine“. Wie war das möglich? Ich glaube, bisher hat darauf niemand eine befriedigende Antwort. Die drei Aspekte – Aufklärung, Moderne, Faschismus – gehören für mich zur gleichen Geschichte, auch wenn sie völlig inkompatibel erscheinen. Aber, ich würde behaupten, dass es ähnliche Rätsel, nur in kleinerem Maßstab für die anderen europäischen Nationen gibt.
Worauf spielen Sie an?
Nun, wie war es möglich, dass das England eines Shakespeares, der großen demokratischen Freiheit, auch jenes der Sklaverei war? Wie konnte beides koexistieren? Oder nehmen Sie Frankreich: Wie kamen die Ideale der bürgerlichen Revolution von Freiheit und Gleichheit mit Guillotine und Terror zusammen? Oder die kolonialen Grausamkeiten? Das ist nicht dasselbe wie die deutsche Naziherrschaft. Aber in allen europäischen Kulturen existiert dieser Zwiespalt zwischen Humanität und Grausamkeit.
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