Murals und moderne Kunst: Der mexikanische Einfluss
Wie Jackson Pollock bei einem Stalinisten das Klecksen lernte: Das Whitney Museum in New Yorker zeigt, wie Mexikaner die US-Kunst geprägt haben.
Ein Künstlerworkshop 1936 in New York. Der vielbeachtete mexikanische Wandmaler David Alfaro Siqueiros leitet die Klasse. Er lässt seine Schüler bis dahin unerhörte Dinge tun. Sie lassen die Farbe tropfen, sie schleudern, schmieren sie auf die Leinwand, experimentieren mit diversen Materialien. In der Klasse sitzt auch ein damals noch unbekannter Nachwuchskünstler Jackson Pollock.
Pollock hat diese Klasse offenbar nachhaltig beeindruckt. In den Jahren danach wandelt sich seine Kunst radikal. Zu Weltruhm gelangte er schließlich, weil er Farbe frei und unkonventionell einsetzte, um seine abstrakten Gemälde zu kreieren. Action Painting wurde diese neue Kunstform genannt. Nur: So neu war sie womöglich gar nicht. Gelernt hat Pollock seine Techniken wohl in ebenjenem Malkurs von einem mexikanischen Wandmaler, der Kommunist und Stalin-Anhänger war.
Es ist nur eine Fußnote der Kunstgeschichte, die zu Unrecht, aber wohl auch nicht ganz ohne Absicht in Vergessenheit geraten ist. Zu Zeiten des Kalten Krieges galt Pollocks Kunst als Beweis für die kulturelle Überlegenheit der USA über die Sowjetunion, des Westens über den Kommunismus. Nur ein freies Land wie die Vereinigten Staaten von Amerika könne eine von allen Konventionen befreite Kunst hervorbringen. Ein Narrativ, das bis in die heutige Zeit an Wirkmacht nicht verloren hat.
Die Ausstellung trifft einen Nerv
Eine viel beachtete Ausstellung im New Yorker Whitney Museum stellt sich diesem Narrativ nun entgegen (auch wenn sie derzeit nicht mehr besucht werden kann). „Vida Americana: Mexican Muralists Remake American Art, 1925–1945“ erzählt vom kaum zu unterschätzenden Einfluss mexikanischer Künstler auf die Kunstgeschichte des nördlichen Nachbarn vor und nach dem großen Börsencrash von 1929. Und scheint damit einen Nerv getroffen zu haben in einem Amerika, das gerade von den xenophoben Attacken ihres Präsidenten vor allem gegen mexikanische Einwanderer gebeutelt wird.
Die New York Times jubelte, mit dieser Ausstellung werde die Kunstgeschichte umgeschrieben. Endlich bekämen jene die Anerkennung, „die sie verdienen“. Das New Yorker Online-Kulturmagazin The Vulture spricht gar von der „bedeutendsten Ausstellung des 21. Jahrhunderts“.
Die Geschichte, die diese Ausstellung erzählt, beginnt 1920, kurz nach den Wirren der Mexikanischen Revolution. Gerade hat sich eine neue Regierung unter Präsident Álvaro Obregón etabliert. Er beauftragt Künstler im ganzen Land mit der Erstellung großflächiger Wandmalereien. Volksnah sollen sie sein, sich auf die indigene Kultur Mexikos berufen und Ausblick auf eine hoffnungsvolle Zukunft Mexikos geben. Es geht um die Bildung eines neuen nationalen Bewusstseins. Es entsteht eine neue – wenn auch staatlich initiierte – und bildmächtige Bewegung.
„Los Tres Grandes“, die drei Großen
Schon bald werden US-amerikanische Kunstkenner aufmerksam. Besonders drei Namen finden außerhalb von Mexiko immer mehr Beachtung: José Clemente Orozco, Diego Rivera und David Alfaro Siqueiros. „Los Tres Grandes“, die drei Großen, wurden sie genannt. Ihre Wandgemälde sind narrativ, figurativ und sozial engagiert.
Sonst gab es wenig Gemeinsamkeiten zwischen ihren Stilen. Rivera war der produktivste und bekannteste unter ihnen. Seine farbenfrohen Figuren erzählen in meist collagenartiger Anordnung von der Schönheit der indigenen Bevölkerung, dem Kampf gegen Unterdrückung und einer leuchtenden Zukunft Mexikos.
Wegen COVID-19 ist das Whitney Museum momentan geschlossen.
Ganz anders sein Künstlerkollege Orozco. Dessen düstere Bilder konzentrieren sich auf die negativen Seiten des Freiheitskampfes. Siqueiros, der jüngste von den dreien, war in den 1920ern dagegen hauptsächlich damit beschäftigt, die Arbeiterbewegung zu organisieren und die politischen Ziele der Bewegung zu formulieren.
Sie suchten ihr Glück in USA. Mit Erfolg
1924 aber kappte eine neue Regierung in Mexiko die Aufträge für Wandmaler. Schlecht für „Los Tres Grandes“. Eine wichtige Geldquelle war versiegt. Nach und nach suchten alle drei ihr Glück in den USA. Mit Erfolg. Kritiker der Los Angeles Times ernannten Orozcos Werk zum „bedeutendsten künstlerischen Ausbruch unserer Zeit“.
Das gerade erst eröffnete Museum of Modern Art in New York widmete Diego Rivera eine Solo-Show. Sie brach alle Besucherrekorde. Über Siqueiros wiederum ist Jahrzehnte später zu lesen, dessen Anwesenheit in Los Angeles sei ähnlich bedeutsam gewesen „wie die der Surrealisten in New York in den 40er Jahren“.
Der junge Jackson Pollock war von diesen Erfolgen fasziniert. Er pilgerte durch die USA, um sich diverse Wandmalereien vor Ort anzusehen. Im Sommer 1930 sah er sich „Prometheus“ von Orozco an. Künstlerkollegen erinnern sich, dass er es als das „großartigste Bild der Moderne“ bezeichnet habe. Eine Reproduktion hing längere Zeit an der Wand seines New York Studios.
Pollock im experimentellen Workshop von Siqueiros
Von Orozcos „The Epic of American Civilization“ war er so begeistert, dass er dessen „expressionistische Pinselstriche“, „intensive Erdtöne“ und die „gequälten und zerstückelten Figuren“ in ein persönliches Vokabular für seine eigenen Werke übersetzt habe, schreibt der Kunsthistoriker Kirk Varnedoe. In jenem Jahr schrieb sich Pollock in den experimentellen Workshop von Siqueiros in New York ein.
Schon während des Zweiten Weltkriegs aber mehrten sich die Stimmen in den USA, die nichts mehr von antikapitalistischen Linken oder Immigranten aus Südamerika wissen wollten. Und spätestens nach 1945 war die Zeit von „Los Tres Grandes“ vorbei. Ihre Bedeutung wurde auch von Pollock nirgends mehr erwähnt. Sein Werk galt plötzlich als reiner Ausdruck US-amerikanischer Freiheit. Der amerikanischste unter den amerikanischen Malern wäre ohne die Inspiration mexikanischer Wandmaler aber wohl nie so weit gekommen.
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