Multikultureller Weihnachtstaumel: Klebriger Honig in Wolle
In der Lust am weihnachtlichen Schein liegt auch die Lust am Sein - unabhängig von der kulturellen Prägung der Feiernden.
Von ganz weit oben betrachtet, nur über den Stadtplan gebeugt, der mit Hilfe unterschiedlicher Einfärbungen der urbanen Gebiete über die Armutsviertel Auskunft gibt, ist diese Straße bestimmt ein Fall für jene, die aus dem Untergrund heraus Plakate wie diese in U-Bahnhöfe kleben, jüngst wieder gesehen: "Stopp dem Weihnachtsterror! Schluss mit dem Elend!"
Unterzeichnet ist das warnende Pamphlet, wenn die Erinnerung nicht trügt, mit "Linkes Bündnis gegen Imperialismus", es könnte auch eine Allianz gegen Unterdrückung, das Empire oder den Wahnsinn als solchen gewesen sein. Eine Art Wiedergängertum also, eine Geste der Vergewisserung, dass Linkes wahrhaft eine Idee vom ganz und gar Anderen sei. Für Ältere ein nostalgisches Erlebnis, war es doch früher, in den guten Siebzigern, unter uns üblich, Weihnachten zu verurteilen, Abschaffung zu fordern, Einhalt zu wünschen und eine Art, heute recht verstanden, linksradikale Besinnlichkeit zu beschwören.
Und wie in den guten alten Zeiten riechen diese Schriftstücke auch noch nach Tapetenkleister, am unteren Saum des, nun ja, Fanals, leckt es sämig-grau-feucht herunter. Aber diese Straße, die sich doch angesprochen fühlen müsste von der als politisch ausgegebenen Kritik an den christlich unterfütterten Festtagen, diese Straße ist taub für die Hoffnung, dass die Tage zwischen Erstem Advent und Heiligabend so würden, wie alle Tage sind, Tage des Arbeitens und des Ausruhens. Ich nenne sie Weichselstraße, sie liegt mitten in Berlin-Neukölln, sie ist nicht weit entfernt von allem, was Kleinbürgern Grusel bereitet. Rütlischule, Parallelgesellschaft, verkaufte Bräute, arme Kinder, Hartz IV - türkisch, arabisch, urdeutsch, leicht bohemehaft, denn die Wohnungen sind vergleichsweise billig. Es ist keine Kricketgesellschaft, die hier lebt, man bevorzugt harschere Tonlagen, gelegentlich. Aber diese Straße ist weihnachtlich geschmückt. Nicht auf Behördenanordnung, keine gutwillige Kulturinitiative hat ihre Finger hier drin. Das Lichtermeer wurde gutbürgerlich selbst inszeniert. Von den Balkonen rauscht es glitternd und flitternd in satten Farbsprenkeln herunter, auf ihnen stehen Tannenbäume, zum Frischhalten aufgestellt. Das Wunder, wenn es denn eines ist, könnte sein, dass diese Lust an weihnachtlichem Schein offenbar ein Sein, unabhängig von der jeweiligen kulturellen Prägung, ist. Muslimische (arabische, türkische), katholische (polnische, kroatische) und protestantische (das Gros der Straße) Einwohner scheinen sich gegenseitig überbieten zu wollen mit Illuminationen der allerindezentesten Art.
Doch müssten nicht gerade sie protestieren gegen diesen Weihnachtsterror, der, so heißt es, erzwungenen, nur der Entfremdung geschuldeten Kaufräusche? Hätten nicht gerade sie allen Grund, aufzustehen, zum Bezirksamt zu laufen und gellend und wehklagend zu schreien: "Schluss mit Weihnachten! Wir wollen ein gutes Leben, keine Beruhigung, keine falsche Hoffnung auf bessere Zeiten!"
Tun sie nicht. Jahr für Jahr sieht man ebendiese Menschen nicht nur aus dieser Straße, sondern überall in den als arm kartografierten Vierteln aus Weihnachten das machen, was es, offenbar eingesunken in die allgemeine Tradition dieser Gesellschaft, auch ist: eine Zeit der Hoffnung einschließlich aller Erwartungen, aller Wut und ebenso aller Enttäuschung, die in dem, was Hoffnung bedeutet, immer geborgen liegt.
Leicht ließe sich sagen, Weihnachten sei eine gigantische Manipulationsmaschine, eine, die bis in die letzten Verästelungen des Psychischen reicht, indem dann Düfte von Zimt und Orangeade, von Vanille und Zuckersirup an die Synapsen unserer Nervenzellen andocken und uns keine Wahl lassen, als sentimental, in vorselige Stimmung gebracht zu werden.
Erstaunlich ist ohnehin, dass gerade in den Elendsquartieren meist kein Elend herrscht, sondern ungezügelte Aufbruchstimmung. Natürlich, da und dort wohnen AlkoholikerInnen, Menschen ohne Familie, frustriert, gelähmt, eher einsam als gesellig. Aber die gibt es in den feineren Vierteln ebenso - der Weihnachtswahn in seiner eklatantesten Form jedoch bricht gerade dort aus, wo man den Aufstand gegen das Dasein im Notdürftigen vermuten sollte.
Viel mehr noch: Konsumforscher recherchieren für ihre Testate für Massenmärkte am liebsten in diesen Vierteln. Weihnachten gibt ihnen dann recht: Ja, in den Einkaufsmärkten dort gehen Flachbildfernseher dieses Jahr besonders gut, auch andere elektronische Geräte werden gern erworben; das Spielzeug für die Kinder entspricht eher konservativen Vorstellungen vom Leben, Mädchen bekommen Rosafarbenes, Jungs Textiles in dunkleren Farben.
Das mag einen verdrießen, einem behagen oder einfach rätselhaft vorkommen, Tatsache ist, dass zu keiner anderen Zeit Kitsch und Kunst, Konsum und Emotionalität eine engere Verbindung miteinander eingehen. Könnte man Weihnachten nicht bürgerlich sein lassen - schwerbürgerlich sogar - und sich im Februar, im September oder im Juni beschenken, beisammensitzen, zusammen speisen und sprechen? Natürlich ginge das, aber dann wäre es nicht Weihnachten. Man befrage nur mal all die muslimischen Kinder, ob ihnen die ganze Pracht zum Zuckerfest nicht lieber wäre - vermutlich werden sie antworten: Das eine ist so toll wie das andere.
Weihnachten ist nach allem, was Kulturwissenschaftler wissen, so unentrinnbar präsent, weil es ein familiäres Fest ist. Ein Versprechen mit allem Horror und allem Glanz, der in jeder Familie steckt. Es ist die Essenz dessen, was Familie so klebrig macht: Man bekommt sie einfach nicht aus dem Pelz, sie hängt einem in der Wolle wie Honig, wie ein Stoff, der auch noch verlockend riecht und der schmeckt. Eingekuschelt ist man in diesen Stoff, das Bürgerliche der Gesellschaft, das sich nicht auswaschen lässt, solange das Klebrige seine Klebkraft nicht verloren hat.
Man beschenkt andere, Nahe vor allem, signalisiert mit den Präsenten, es wohl zu meinen, es zumindest zu beabsichtigen. Zugleich aber ist Familie der einzige gesellschaftliche Verband, in dem die Gesetze der Intimität am verlässlichsten verletzt werden - ein Hort unentwegter Übergriffe, Zumutungen und Sehnsüchte zugleich. Psychologen können ja so lebensnah gehässig sein. Sie alle sagen, ein Weihnachten ohne aufglühende Hoffnung sei keines, erst recht aber sei es misslungen, wenn es keinen Gran der Enttäuschung gab. Im ewigen Wettlauf miteinander fallen die Geschenke größer als gewollt aus, lieber zu viel ausgeben, als in ein nur halbfroh leuchtendes Gesicht schauen zu müssen. Ein Laptop, gut und schön, aber der vom Discounter? Das Glück ist eben nie vollkommen, Mutter hat schon mal gemeckert, Vater ist viel zu laut geworden, das Bikinitop für die Barbiepuppe ist doch nicht pink genug
Nach Weihnachten ist insofern vor Weihnachten. Jedes Jahr setzt schon am 27. Dezember ein stilles, meist unbewusstes Präparieren für das nächste Fest ein.
Neulich im armen Neukölln saß eine multikulturell gemischte Schulklasse im U-Bahn-Waggon - nichts Besonderes in einer Gegend, deren Bevölkerung lebendig durchmischt ist. In den schrägsten Tonlagen sangen sie "Oh Tannenbaum", "Stille Nacht, heilige Nacht" und andere Weihnachtslieder, auch gegen den Willen der Lehrerin ("Nicht so laut!") und mit den leuchtendsten Augen. Versierte Christen mag das freuen: Überall wird an Bethlehem erinnert, an das Wunder
Könnte sein. In Wahrheit freuen sie sich alle aneinander, vor allem zu Weihnachten. Ein Wunsch, es irgendwie im Leben fein zu haben, mit Lichtern, mit Essen und Trinken und einer Familie, die ihr Versprechen hält.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé