: Müssen wir uns endlich vom Auto verabschieden?JA
VERKEHR Am Mittwoch rufen hunderte europäische Städte den autofreien Tag aus. Ein Symbol gegen den Auto-Rausch. Denn Pkw wirken angesichts des Klimawandels wie Auslaufmodelle
Die sonntazfrage wird vorab online gestellt. Immer Dienstagmittag. Wir wählen eine interessante LeserInnenantwort aus und drucken sie in der nächsten sonntaz.
Kerstin Haarmann, 44, ist Geschäftsführerin beim Verkehrsclub Deutschland
Das Auto ist heute ein Rennpanzer, der mit 1,5 Tonnen Gewicht eineinhalb Personen im Schnitt transportiert, also knapp zehn Prozent der Eigenmasse, der das 300-fache der menschlichen Muskelkraft als Antriebsleistung benötigt, dessen Infrastruktur 18.000 Kilometer der Bundesfläche versiegelt und 3 Prozent unserer Umwelt verlärmt, dessen fossiler Energiebedarf eine Ökokatastrophe nach der nächsten verursacht und der mit sechs Milliarden Euro direkten Subventionen pro Jahr gestützt wird. Sind wir mit dieser Mobilität und dem Attribut „Autonation“ zukunftsfähig? Nein! Diese Anhäufung von Ineffizienz ist eine Beleidigung des Technologiestandorts Deutschland. Der Verkehr ist der einzige Bereich, in dem der Energieverbrauch immer noch steigt. Dagegen gibt es eine Fülle von Konzepten für individuelle Mobilität und öffentliche Verkehrssysteme, die mit einem Bruchteil an Umweltverbrauch komfortable, sichere und bezahlbare Mobilität gewährleisten. Dass wir bis heute diesen Weg nicht beschreiten, ist ein Versagen der Politik. Die technische Realisierung dieser Konzepte, eine „Abrüstung“ im Straßenverkehr, ist möglich mit Carsharing, leichten Elektrofahrzeugen und Elektrofahrrädern in Kombination mit dem öffentlichen Verkehr. Zu Chancen und positiven Effekten fragen sie ihren Verstand oder den Verkehrsclub Deutschland VCD.
Winfried Hermann, 58, Grüne, ist Vorsitzender im Verkehrsausschuss des Bundestags
Wir müssen uns vom Auto verabschieden, wie wir es heute kennen. Wenn – wie vorhergesagt – in 20 Jahren doppelt so viele Autos auf der Welt fahren wie heute, wird die Erderwärmung unumkehrbar. Außerdem müssen wir vom Öl lassen, bevor es uns verlässt. Und dies, ohne vorher wie Junkies die letzten unberührten Regionen der Erde angebohrt zu haben oder im Methadonprogramm Palmöl die Lösung zu sehen. Es wäre naiv zu hoffen, dass etwa China dank besserer Einsicht auf eine weitere Massenmotorisierung verzichten wird (13,6 Millionen neue Autos im vergangenen Jahr!). Die Industrieländer müssen zeigen, dass Wohlstand und klimaschonende Mobilität kein Gegensatz sind. Wir müssen eine neue Mobilitätskultur entwickeln, in der das Auto seine Vorherrschaft verliert und stattdessen eingebettet ist in ein Verkehrssystem, das öffentlichen Verkehr, Fuß- und Radverkehr und alternative Nutzungsformen wie Car-Sharing optimal miteinander verknüpft. Die Autos von morgen werden kleiner, langsamer und leichter sein und mit Strom aus Wind und Sonne angetrieben werden. Diesen Markt hat China längst erkannt und fördert die Entwicklung mit Milliarden, während bei uns die Klangverbesserung eines Sechszylinders als große Ingenieurskunst gilt. Diesen Sound wird es bald nur noch aus der Dose geben!
Helmut van der Buchholz, 50, Diplom-Ingenieur, hat den Text bei taz.de online gestellt
Ein Auto, das durchschnittlich mehr als 22 Stunden am Tag stillsteht, ist es überhaupt nicht wert, dass man fast eine Stunde eines Achtstunden-Arbeitstages dafür schuften muss. Für diese Stunde fallen einem doch sicherlich viel bessere Dinge ein, die man tun könnte, als wahlweise Geldverdienen oder Autofahren. Mag sein, dass für manch dünn besiedeltes Gebiet weit hinten auf dem Land noch eine spezielle Variante des Car-Sharing erfunden werden muss, um dem Privat-Pkw endlich adieu sagen zu können. Aber auch das sollte für einen Bruchteil der Entwicklungskosten für neue PS-Wunderwerke möglich sein. Wenn man denn nur will.
NEIN
Peter Ramsauer, 56, CSU-Politiker, ist seit Oktober 2009 Bundesverkehrsminister
Das Auto ist und bleibt ein unverzichtbarer Teil der persönlichen Freiheit. Es sichert jedem Einzelnen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Mein Motto lautet: Umdenken statt verabschieden! Wir müssen neue Wege gehen, neue Antriebstechnologien entwickeln. Denn die fossilen Brennstoffe gehen in überschaubarer Zeit zu Ende. Dem Elektroauto, angetrieben mit Strom aus erneuerbaren Energien, gehört die Zukunft. Batterie- und Brennstoffzellenfahrzeuge lösen den Verbrennungsmotor aber nicht über Nacht ab. Konventionelle Antriebe werden auch mittelfristig nicht aussterben. Sie werden aber wesentlich effizienter sein als heute. Daneben wollen wir Deutschland zum Leitmarkt für Elektromobilität machen. Bis 2020 sollen mindestens eine Million Elektroautos auf deutschen Straßen fahren. Mein Ministerium fördert mit 115 Millionen Euro acht Modellregionen in Deutschland. Hier läuft der Praxistest mit konkreten Projekten: Vom privaten Individualverkehr über kommerziellen Lieferverkehr bis zum öffentlichen Nahverkehr. Mit der Elektromobilität machen wir den Verkehr zukunftsfest, schonen Klima und Umwelt und unsere Städte werden sauberer und lebenswerter.
Peter Meyer, 61, ist Präsident des Allgemeinen Deutschen Automobilclubs (ADAC)
Falls die Frage ernst gemeint sein sollte: Im vergangenen Jahr haben allein die Deutschen fast 600 Milliarden Kilometer im Auto zurückgelegt. Dies sollte jeder wissen, der seriös über Alternativen zum motorisierten Individualverkehr diskutiert. Und er sollte auch dazu sagen, wie ein möglicher Ersatz aussehen könnte – denn Bus, Bahn, Flugzeug oder ÖPNV sind es nicht! Mit dem Auto kann ich zu jeder Tages- und Nachtzeit eine Fahrt oder Reise beginnen. Ohne das Auto würden viele soziale Kontakte in Gefahr geraten. Denn in verkehrsschwachen Zeiten und außerhalb der Ballungsräume kommt ein dichtes ÖPNV-Netz schnell an die Grenzen. Das Auto steht aber nicht nur für individuelle Freiheit. Für die deutsche Wirtschaft ist der Pkw unverzichtbar: Die Automobilindustrie ist hinsichtlich der Beschäftigung und der Wertschöpfung einer der bedeutendsten Industriezweige. Die eingangs gestellte Frage kann also wirklich nicht ernst gemeint sein.
Matthias Wissmann, 61, ist seit 2007 Präsident des Verbands der Automobilindustrie
Paul ist Student. Er wohnt in Münster, Freiburg oder Berlin. Alles, was er zum Leben braucht, ist zu Fuß, per Fahrrad oder S-Bahn erreichbar. „Aufzutanken“ bedeutet für ihn ein verlängertes Wochenende bei den Eltern, und dorthin fährt er mit dem Zug. Ein Auto braucht er nicht. Er sieht auch nicht ein, dass irgendjemand sonst eines braucht. Einige Jahre später: Paul wohnt mit Frau und zwei Kindern im Grünen. Er arbeitet im Stadtzentrum, die Kinder gehen zum Klavierunterricht und Fußballverein, samstags steht der Großeinkauf an. Paul sieht die Welt jetzt mit anderen Augen. Das Auto ist für die meisten Menschen ein notwendiges Fortbewegungsmittel. Für viele geht damit auch der Wunsch nach Unabhängigkeit in Erfüllung. Dieser Wunsch wird – bei allen Veränderungen, die es auf dem Weg zur emissionsfreien, nachhaltigen Mobilität noch geben wird – immer bestehen. Auch stößt das Auto etwa in Asien auf steigendes Interesse. Es bleibt ein emotionales Produkt und Ausdruck der Persönlichkeit. Das mag nicht allen gefallen. Aber in einer offenen Gesellschaft ist Entscheidungsfreiheit ein hohes Gut. Das Auto: eine deutsche Erfindung, die die Welt weiter bewegen und begeistern wird.