Münchener Tatort: Das Recht auf juristischen Beistand
Im Tatort "Nie wieder frei sein" verteidigt eine Anwältin einen Sexualstraftäter. Wie hier die Grundlagen des Rechtsstaates schmerzhaft ausgelotet werden, ist eine juristische Tragödie.
HAMBURG taz | Ist sie eine skrupellose Karrieristin oder ist sie einfach nur eine gute Anwältin? Regina Zimmer führt Polizei und Staatsanwaltschaft während eines Sexualmordprozesses gnadenlos vor. Sämtliche Ermittlungsergebnisse werden von ihr vor Gericht als formal unbrauchbar diskreditiert. Kommissar Batic (Miroslav Nemec), der den Täter schon überführt glaubte, schäumt; Leitmayr (Udo Wachtveitl) will die Wellen glätten. Doch das ist fast unmöglich, muss der aufgewühlte Kollege mit ihm den zuvor Festgesetzten auch noch gegen den Volkszorn verteidigen. Die Nachbarschaft hat schon ihren Widerstand organisiert, auch die junge Anwältin kriegt ihn bald am eigenen Körper zu spüren.
Die Angstdebatte um die Sicherheitsverwahrung von Triebtätern ist noch im Gange, da bringt der Bayerische Rundfunk diesen überhitzten und zugleich kühl konstruierten Krimi auf den Bildschirm. Zweifel an der Täterschaft des Freigesprochenen kommt nicht auf: Ja, das ist der Mann, dem der Zuschauer in einer Szene gleich am Anfang einen unendlich lang erscheinenden Augenblick dabei zuschaut, wie er den bewegungslosen Körper seines Opfers aus einem Lieferwagen wuchtet.
Ist die Münchner „Tatort“-Episode „Nie wieder frei sein“ (Buch: Dinah Marte Golch) also eine Anklage gegen die Mängel unseres Rechtssystem? Nein, eben nicht. In der verwegenen erzählerischen Konstruktion werden das Opfer (grandios: Anna Maria Sturm) und die Anwältin (ebenso grandios: Lisa Wagner) ins Zentrum des Krimis gestellt: Hier die zerstörte junge Frau, die jeder Zukunft beraubt ist und nun auch noch ihren Peiniger davon kommen sieht; dort die brillante Nachwuchsjuristin, die als Pflichtverteidigern konsequent den rechtlichen Rahmen für ihren Klienten ausschöpft, weil eben jeder Mensch ein Recht auf juristischen Beistand hat.
Regisseur Christian Zübert hat neben einigen Folgen „KDD“ vor allem Komödien gedreht, direkt im Anschluss an seinen „Tatort“ läuft seine extrem schluffige Kleinkriminellenkomödie „Hardcover“ als Fernseherstaufführung. In seinem Fernsehkrimi geht er nun weit über die Grenzen des üblichen Primetime-Problemplauschs: Wie er hier die Grundlagen des Rechtsstaates schmerzhaft auslotet, ohne dabei in dumpfen Populismus zu verfallen, ist furios. Eine juristische Tragödie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind