Morrissey in Berlin: Das Licht geht nie aus
Bei seinem Deutschlandkonzert in Berlin zeigt sich Morrissey als Gesamtkunstwerk aus Bewegung und Stimme – und wechselt stetig zwischen Intimität und Distanz.
BERLIN taz | Es gibt nicht wenige, denen Steven Patrick Morrissey Mitte der 80er Jahre das Leben gerettet haben soll. So geht zumindest die Legende. Viele gefährdete junge Menschen fanden sich im Außenseitertum der Smiths wieder. In den Schilderungen vergeblicher Liebesmüh fanden sie Trost. Die elegische Strahlkraft der stilprägenden Smiths-Alben "Meat Is Murder" und "The Queen Is Dead" verschaffte der Band in der Indieszene einen schier einzigartigen Status.
Vor einigen Jahren adelte der New Musical Express die Combo um Frontmann Morrissey und Gitarrist Johnny Marr mit dem Titel "Most Influential Artist Ever". Auch wenn sich die Smiths 1987 auflösten, fördern Songs wie "How Soon Is Now" oder "There Is a Light That Never Goes Out" bei Mittvierzigern die eine oder andere Träne zu Tage.
So glänzt es dann auch in einigen Augenwinkeln am Montagabend in der gut gefüllten Zitadelle Spandau, als Morrissey sein Publikum, das seit dem späten Nachmittag ausharrt, mit einem Kniefall begrüßt. Sich erhebend bekennt er dann, er werde von der Bühne herab nun alle umarmen, die gekommen sind. "Youll never know what happens in the city of art", sagt der mittlerweile 52-Jährige wenig später und verbeugt sich erneut.
Divenhafter Individualismus
Es folgen ein paar Schritte zurück, ein Verharren auf Stelle, ein wehmütiger Blick in den Himmel, gepaart mit leisen Handbewegungen. Man könnte fast meinen, Morrissey habe sich von den grazilen Positionsspielen der vielen Libellen, die über den Köpfen vor der Bühne kreisen, inspirieren lassen. Doch der hochgewachsene Mann mit der markanten grauschimmernden Tolle ist seit jeher sein eigener Choreograf. Die Fans lieben ihn bedingungslos für diesen divenhaften Individualismus - ein Gesamtkunstwerk aus Bewegung und Stimme.
Es ist sein einziges Deutschlandkonzert in diesem Jahr. Im Gepäck hat er das Ende April erschienene Best-of-Album "Very Best Of Morrissey". Es sind "You Have Killed Me" und "Everyday is Like Sunday", die für erste Euphorie sorgen. Ansonsten verläuft die erste Konzerthälfte fast bedächtig. Zu sehr scheinen alle versammelten Generationen - es sind nicht nur die traurigen Teenager von damals gekommen - der Präsenz und Magie der Popikone zu erliegen. Einer der vielen optischen Doppelgänger des britischen Indiepapstes steigt vorsichtig über einen auf kieseligen Boden gestellten, gut gefüllten Bierbecher und lächelt die Eigentümerin aufmunternd an, während Morrissey das Lou-Reed-Cover "Satellite of Love" zum Besten gibt.
Nelken und Narzissen
In der zweiten Konzerthälfte folgen einige Smiths-Klassiker, langsam weicht die andächtige Ruhe einem vielstimmigen Chor. Nelken und Narzissen regnen aus dem Publikum auf die Bühne nieder. Alles wartet auf ein orchestrales Finale. Nach "Meat Is Murder" folgt "Irish Blood, English Heart". Morrissey streckt die Hände in Richtung erste Reihe aus, ohne sich wirklich berühren zu lassen. Der stetige Wechsel zwischen Intimität und Distanz, zwischen Nähe und Rückzug ist schon immer eines seiner Markenzeichen gewesen. Dafür lieben die Fans den Mann, der auch in Berlin die Attitüde eines punkigen Elvis Presley vollendet zur Schau stellt.
Nach 70 Minuten gibt es noch eine wild bejubelte Zugabe mit "First Of The Gang to Die". Seine Band ist mit roten T-Shirts angetan, auf denen ein verfremdetes goldenes M prangt, über dem "McCruelty" zu lesen ist - Morrissey ist überzeugter Vegetarier. Sie liefert noch mal, wie auch schon bei den Songs zuvor, ein musikalisch makelloses Set ab. Dann ist Schluss für den Mann, der sich zum Ende noch schnell ein blütenweißes Hemd übergezogen hat. Auf seine sonst so umfangreichen politischen Zwischenbemerkungen in punkto Tierschutz und britisches Könighaus hat Morrissey weitgehend verzichtet. Während sich sein durchweg fröhlich-bewegtes Publikum dem Ausgang zuwendet, verharren die Libellen vor der Bühne. Es scheint, als wollten sie dem Sänger salutieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn