Mord an Marwa S. in Dresden: Prozess hinter Panzerglas
Marwa El Sherbini wurde im Gerichtssaal erstochen. Im Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder werden 200 Polizisten das Gebäude sichern. Sogar Richter werden kontrolliert.
DRESDEN taz | Was wird in Elwy O.s Kopf vorgehen, wenn er am Montag die zehn Stufen des Dresdner Landgerichts hochgeht, hinein in das Gebäude, in dem am 1. Juli um 11.07 Uhr das Leben seiner Frau endete? Was wird er denken, wenn er sieht, wie streng die Sicherheitskontrollen sind - während der Mann, der hier im Saal 0.10 seine Marwa tötete, ungehindert ein Messer mitbringen konnte?
Die Bilder von der Bluttat werden in Elwy O. wieder hochkommen, wenn er dem 28-jährigen Russlanddeutschen Alexander W. gegenübersitzt, der damals immer wieder auf ihn und seine Frau einstach. Und dennoch will O. bei dem Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder von Marwa El Sherbini unbedingt dabei sein. Er kommt dafür aus Ägypten zurück nach Dresden gereist.
Elwy O. und sein Anwalt wollen als Nebenkläger dafür sorgen, dass der Angeklagte bis ans Lebensende im Gefängnis bleibt. "Das Gericht wird zu prüfen haben, ob neben der Strafe auch eine Sicherungsverwahrung in Betracht kommt", sagt Elwy O.s Rechtsanwalt Heiko Lesch. "Dabei geht es nicht um Vergeltung, sondern um die Sicherung der Allgemeinheit vor besonders gefährlichen Tätern."
Die Tat ist der mutmaßlich erste Mord in Deutschland, der aus islamfeindlichen Motiven begangen wurde. Alexander W. habe auf Marwa El Sherbini und ihren Ehemann eingestochen, "weil er sie aus bloßem Hass auf Nichteuropäer und Muslime, denen er kein Lebensrecht in Deutschland zugestand, vernichten wollte", heißt es in der 21 Seiten langen Anklageschrift.
Der Prozess wird einer der bedeutendsten der vergangenen Jahre werden, vor allem für die rund vier Millionen Muslime in Deutschland. Das liegt nicht nur an der Brutalität der Tat und dem Tatort, sondern auch an der Desinteressiertheit, mit der die Mehrheitsgesellschaft zunächst reagiert hatte. Politik und Medien fanden tagelang keinen angemessenen Umgang mit der Tat - da gingen in Deutschland und Ägypten längst Demonstranten auf die Straße. Fundamentalisten machten aus El Sherbini eine "Kopftuchmärtyrerin", und der iranische Präsident Ahmadinedschad missbrauchte sie für seine Propaganda.
Die Behörden wissen um die Brisanz und haben Sicherheitsmaßnahmen verhängt, wie sie Sachsen bisher nicht kannte. In den kommenden drei Wochen wird das gesamte Gerichtsgebäude nahe der Elbe abgesperrt, 200 Polizisten sichern das Gebäude. Nicht nur Medienvertreter und Zuschauer müssen durch eine Sicherheitsschleuse mit Metalldetektor, auch Richter, Staatsanwälte und Anwälte sollen kontrolliert werden - ebenso der Witwer Elwy O. "Ausnahmslos alle werden kontrolliert", sagt Landgerichtssprecher Peter Kieß.
Wer das Gericht in den Tagen vor dem Prozess besucht, spürt die Anspannung. Im Schwurgerichtssaal 0.84 installieren Handwerker eine Scheibe aus Panzerglas. Sie wird die Zuschauer von den Prozessbeteiligten trennen und soll vor allem auch den Angeklagten schützen. Das Landeskriminalamt Sachsen spricht von "konkreten Drohungen im Internet". Bereits kurz nach der Tat war ein Video aufgetaucht, in dem Islamisten den "hässlichen Russen" bedrohten.
Als Alexander W. vor dreieinhalb Monaten auf El Sherbini und Elwy O. einstach, gab es im Dresdner Landgericht noch keine Metalldetektoren. W.s Rucksack kontrollierte keiner. Dort hatte er das 18 Zentimeter lange Küchenmesser versteckt, mit dem er später zustach.
Für Elwy O. wird es noch aus einem anderen Grund brutal werden, ins Dresdner Landgericht zu kommen. Er, seine Frau und der drei Jahre alte Sohn Mustafa wohnten nur wenige Meter entfernt im Stadtteil Johannstadt. Und nach allem, was man von Freunden hört, lebten sie dort glücklich - bis zum 1. Juli.
Von Bremen zogen die beiden im Jahr 2008 nach Dresden, wo O. am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik forschte. El Sherbini arbeitete in einer Apotheke, sie hatte in Alexandria Pharmazie studiert. Elwy O. hatte seine Promotion so gut wie abgeschlossen, in wenigen Monaten wollte das Paar nach Ägypten zurückkehren. Dort wäre Anfang 2010 auch das zweite Kind der beiden zur Welt gekommen, El Sherbini war im dritten Monat schwanger.
Der Mann, der sie erstochen hat, lebte direkt auf der anderen Seite der Straße, in einem zehnstöckigen, grauen Plattenbau. Sie waren Gewinner. Er ein Verlierer.
Alexander W. war im Jahr 2003 aus der russischen Millionenstadt Perm am Ural nach Deutschland gekommen. In Dresden wohnte er zunächst in einem Übergangswohnheim, das er aber nach einem Jahr verlassen musste. "Er hat immer Probleme gemacht mit den Nachbarn", erinnert sich der Heimleiter. Zuletzt bezog W. Hartz IV, das er sich gelegentlich durch Jobs als Lagerarbeiter aufbesserte. Aggressiv. Ein Einzelgänger. Perspektivlos. Rassistisch. Das ist das Bild, das man von Alexander W. bekommt.
Marwa El Sherbini begegnet ihm an einem Abend im August 2008 auf dem Spielplatz hinter dem Plattenbau. El Sherbini kam hier öfter mit ihrem Sohn Mustafa her, direkt nebenan ist die Kita "Tabaluga", die er besuchte. An diesem Abend sitzt W. rauchend auf einer Schaukel, auf der zweiten sitzt seine Nichte. El Sherbini bittet ihn, seine Schaukel für Mustafa zu räumen. Sie trägt ein Kopftuch. W. rastet aus, beschimpft sie als "Islamistin" und "Terroristin". Drei Monate später wird W. zu einer Geldstrafe von 780 Euro verurteilt.
Am 1. Juli kommt es zur Berufungsverhandlung vor dem Landgericht. Dort trägt Alexander W. in ruhigem Ton vor, dass er Menschen nach Rassen ordne. Er wähle die NPD und wolle nicht, dass sich die Deutschen mit nichteuropäischen Ausländern und Muslimen vermischen. Diese "Monster" hätten seit dem 11. September 2001 hier nichts mehr zu suchen.
El Sherbini tritt als Zeugin auf. Als sie fertig ist, macht sie sich mit ihrem Mann und Mustafa auf den Weg nach draußen, der direkt am Angeklagten vorbeiführt. In dem Moment springt W. auf und sticht auf El Sherbini und ihren Ehemann ein. Mindestens 16-mal trifft er die beiden jeweils. Nach knapp drei Minuten kommt ein Polizist in den Saal gestürmt. Erst sein Schuss beendet die Bluttat - allerdings trifft die Kugel nicht den Angreifer, sondern Elwy O. in den Oberschenkel. Er überlebt schwer verletzt, Marwa El Sherbini verblutet noch am Tatort.
Hätten die Behörden von der Gefährlichkeit W.s wissen können? Hätten sie ihn vorher durchsuchen müssen? Oder hätte nicht zumindest ein Wachtmeister im Saal anwesend sein sollen? Solche Fragen werden in den kommenden Wochen auch gestellt werden.
Denn Alexander W. war schon vor der Tat aufgefallen. Im August 2006 soll er bei einem Gabelstapler-Lehrgang einen Mitschüler mit einem Messer bedroht haben, auch aus einem Kurs für Spätaussiedler wird von einem ähnlichen Zwischenfall berichtet. Die Polizei allerdings soll davon nichts gewusst haben.
Elwy O.s Anwalt macht der Justiz dennoch Vorwürfe. "Es ist für mich unbegreiflich, dass in einer Strafsache, die vor dem Landgericht verhandelt wird, kein Justizwachtmeister anwesend ist", sagt Heiko Lesch. "So etwas habe ich noch nirgendwo erlebt."
In der Untersuchungshaft soll W. bereits drei Wochen nach der Tat wieder ausgerastet sein und andere Häftlinge bedroht haben mit den Worten: "Ich schlag euch zusammen, ich stech euch ab." Nun ist noch ein russisches Dokument aus dem Jahr 1999 aufgetaucht. Darauf findet sich ein Vermerk der Musterungskommission in Perm, wonach W. wegen Krankheit vom Wehrdienst befreit wurde.
In Medienberichten war von einer psychischen Erkrankung als möglichem Grund die Rede und spekuliert worden, ob Alexander W.s Schuldfähigkeit dadurch eingeschränkt sein könnte. Nach taz-Informationen befindet sich in der rund 2.000 Seiten langen Ermittlungsakte tatsächlich ein solches Dokument. Doch ob es belegt, dass W. wegen psychischer Probleme ausgemustert wurde, ist unklar. Die deutschen Behörden haben bisher auf eine entsprechende Anfrage an die russischen Kollegen keine Antwort bekommen.
Die Dresdner Staatsanwaltschaft verweist nur auf das Gutachten, das der Psychiater Stephan Sutarski über W. erstellt hat. "Der Sachverständige hat nichts festgestellt, was auf eine Geisteskrankheit hindeutet", sagt Sprecher Christian Avenarius. "Es gibt keine Anhaltspunkte für eine Schuldunfähigkeit."
Journalisten aus Ägypten, Russland und den Niederlanden werden am Montag nach Dresden kommen, ebenso die Fernsehkameras von al-Dschasira. Auch der ägyptische Botschafter und ein Vertreter der Staatsanwaltschaft in Alexandria haben sich angekündigt.
Der Druck, der auf der Vorsitzenden Richterin Birgit Wiegand lastet, könnte kaum größer sein.
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