Montagsinterview: "Die Wut bleibt mir"
Versteckt in Berlin hat Inge Deutschkron den Holocaust überlebt. Was sie in den Jahren der Unterdrückung erlebte, war ihre Ausbildung. Deshalb ist sie "Aufklärerin" geworden. Bis heute. Interview: Waltraud Schwab
taz: Frau Deutschkron, die nächsten Wochen werden aufregend …
Inge Deutschkron: Oh ja. Am 17. April verleiht mir Berlin die Louise-Schroeder-Medaille. Schroeder war eine großartige Frau. Ich habe sie nach dem Krieg noch erlebt. Später war sie amtierende Oberbürgermeisterin der Stadt. Außerdem kannte ich sie aus der SPD. Ich bin doch Sozialistin.
Im Mai bekommen Sie dann auch den Carl-von-Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg.
Dem Mann fühle ich mich verbunden. Wissen Sie, ich komme aus einer sehr politischen Familie. Über Carl von Ossietzky redete man. Und das Entsetzen, als er gleich 1933 von den Nazis verhaftet und ins KZ gesteckt wurde. Meine Eltern waren aktiv in der SPD. Schon als Kind habe ich in verräucherten Hinterzimmern Flugblätter gegen die Nazis gefaltet, war auf Demonstrationen dabei. Was das für ein Kind bedeutet, das können Sie gar nicht ermessen. Da fühlt man sich zugehörig.
Sie mussten alt werden, bis Sie gewürdigt wurden für Ihr lebenslanges Engagement für eine zivile Gesellschaft, für Versöhnung und Aufklärung.
So formuliert kommt mir das alles etwas übertrieben vor. Ich tue immer die Dinge, die ich für richtig halte. Das ist nichts Besonderes für mich.
Sie haben sich aber doch lebenslang für eine zivile Gesellschaft eingesetzt.
geboren 1922, ist eine der etwa 1.700 Jüdinnen und Juden, die während der Nazi-Diktatur in Berlin untergetaucht waren und überlebten. Zweieinhalb Jahre lang lebten sie in der Illegalität - ständig von Aufdeckung und Deportation bedroht.
Ein Untergetauchter brauchte, so geht aus neuen Forschungen hervor, mindestens ein Netz von einem Dutzend Helfern und Helferinnen, um überleben zu können.
Einer der stillen Helden, die Inge Deutschkron unterstützten, war Otto Weidt. In dessen Blindenwerkstatt, die heute ein Museum am Hackeschen Markt ist, war sie angestellt.
Seit 20 Jahren läuft im Grips-Theater das Stück "Ab heute heißt du Sara". Eine Bühnenadaptation von Deutschkrons 1978 erschienener Biografie "Ich trug den gelben Stern".
Derzeit häufen sich die Auszeichnungen für Inge Deutschkron. Zudem wurde letzten November die Inge-Deutschkron-Stiftung gegründet. Projekte, die die Geschichte des Faschismus und des Holocaust aufarbeiten, und solche, die sich gegen Rassismus und Rechtsradikalismus wenden, sollen unterstützt werden. "Können Sie verstehen, was damals passiert ist? Nein? Ich auch nicht. Solange man es nicht versteht, kann es wieder geschehen", sagt sie.
Ich war immer politisch engagiert. Nach dem Krieg bin ich nach England zu meinem Vater, der -anders als meine Mutter und ich - noch rechtzeitig Deutschland verlassen konnte. Dort bin ich sofort der Arbeiterpartei beigetreten.
Bei Ihrer Arbeit als Journalistin ging es ebenfalls um Aufklärung.
Sicher, aber was glauben Sie, was eine Journalistin alles machen muss. Zudem bin ich erst 1955, als ich nach Deutschland zurückkam, zufällig zum Journalismus gekommen.
Warum sind Sie zurückgekommen?
Ich mochte England nicht. Als ich dort ankam, wurde ich zur feindlichen Ausländerin erklärt. Später war ich dann Bürgerin zweiter Klasse. Ich ging also wieder nach Deutschland und hatte nichts. Kein Geld, keinen Beruf. Und ich muss Ihnen ehrlich sagen, das finde ich bis heute nicht in Ordnung, dass sich nach dem Krieg niemand um uns Überlebende des Holocaust kümmerte. Ich war 23 Jahre alt, als der Krieg zu Ende war. Ich hatte keine Ausbildung, keine Schulbildung. Was wird aus so einem Mädchen? In Bonn war ich erst mal freiberuflich tätig. Ich musste doch von was leben.
Welcher Zufall hatte Sie denn zum Journalismus geführt?
Ich arbeitete in London vier Jahre bei der Sozialistischen Internationalen. Da kamen viele Leute zusammen. Für mich waren die Sozialisten aus Asien die interessantesten. Damals gab es Gandhi und Nehru. Das waren Namen, die uns erregten, weil sie das Land vom Kolonialismus befreit hatten. Ich habe mich mit den Genossen aus Asien angefreundet. Komm uns besuchen, sagten die.
Da sind Sie Anfang der 50er-Jahre ein Jahr lang durch Asien gereist?
Ich war in Indien, Nepal und Burma. Es war meine Reise zum Beruf. Denn als ich nach Bonn ging - leider Gottes in dieses Bonn, weil meine Eltern nicht wollten, dass ich nach Berlin gehe, wegen des Kalten Krieges -, fragte man mich: Was hast du denn so gemacht? Da erzählte ich von meiner Reise. Das musst du aufschreiben, riefen die, das weiß doch hier kein Mensch. Siehe da, plötzlich interessierten sich Zeitungen für mich. Zwei Jahre lebte ich von freien Aufträgen, bis mich die israelische Zeitung Maariv als Korrespondentin wollte. Dadurch habe ich mir ein gewisses Standing erworben. Ich meine, manche Deutsche haben mich ja behandelt wie Dreck.
Auch als Journalistin?
Hör doch auf, du musst auch vergessen können - solche Sachen warfen die mir an den Kopf. Für mich war unerträglich, dass die ganzen alten Nazis in der Regierung saßen. Ich möchte nicht nur von Globke sprechen, der vor 1933 schon antijüdische Gesetze vorbereitete und später Kommentare zu den Nürnberger Rassegesetzen verfasste. Nach dem Krieg war er Adenauers rechte Hand. Er war ja nur einer. Aber seine Präsenz hat die anderen ermutigt. Und überhaupt, wo Sie hinspuckten, waren die. Ich habe manchmal überlegt, was machst du bloß hier.
Waren Sie zu der Zeit auch oft in Berlin?
Ich bin ab und zu hingefahren. Da sah ich dann natürlich die Leute, die mich während des Krieges versteckt hatten.
Sie und Ihre Mutter lebten zweieinhalb Jahre als Untergetauchte in Berlin …
… das ist ne andere Geschichte. Wir waren doch gerade bei der Adenauer-Regierung. In den 50er-Jahren wollte Israel Wiedergutmachung, weil es 800.000 Juden aufgenommen hatte, obwohl das Land bettelarm war. Was meinen Sie, was damals los war unter den Politikern, um das zu verhindern. In einer Regierungserklärung in dem Zusammenhang war sich dieser Adenauer nicht zu fein, zu behaupten, die Mehrzahl der Deutschen war gegen Hitler. Ich habe gekocht vor Wut.
Sie kochen immer noch.
Ja, die Wut bleibt mir. Der Adenauer war ja einigermaßen integer in der Nazizeit. Er hat Rosen gezüchtet. Er war kein Widerstandsmann.
Wenn man Ihre Bücher liest, merkt man, dass Sie sehr gerne am Aufbau Deutschlands mit beteiligt gewesen wären.
So ist es. Ich hätte auch bei einer deutschen Zeitung gearbeitet, wenn man mich gewollt hätte. Aber die kannten meine Kritik an Adenauers Nachkriegspolitik.
Verletzt es Sie, dass es den Deutschen so schwer fiel, die Geschichte aufzuarbeiten?
Natürlich. Das ist auch längst noch nicht richtig geschehen. Die 68er stellten die ersten Fragen und kriegten dämliche Antworten. Von da an wurde ein bisschen darüber gesprochen. Unter Willy Brandt wurde das Klima offener. Doch eigentlich begann die Aufarbeitung erst Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre. Das ist nicht lange her.
Damals wurden plötzlich sehr viele Biografien von Holocaustopfern veröffentlicht. Ihre kam auch zu der Zeit erst raus.
Sie müssen nicht denken, dass es leicht war, so ein Buch zu schreiben. Ich habe 30 Jahre daran geschrieben. Aber wenn die Erinnerungen über einen kommen, dann geht das manchmal eben nicht mehr. Dann legt man es wieder beiseite.
Sie haben als Jüdin Krieg und Verfolgung in Berlin überlebt …
… ich muss dazu sagen: Wir waren eigentlich keine Juden. Meine Eltern hatten keine Religion. Bei uns gabs einen Weihnachtsbaum und Ostereier. Als meine Mutter mir 1933 sagte, mein Kind, du bist Jüdin, hat mir das nichts bedeutet. Dann hat sie noch etwas zu mir gesagt: Du gehörst jetzt zu einer Minderheit, aber lass dir nichts gefallen. Wehr dich. Das ist der Leitfaden meines Lebens.
Haben Sie nach dem Krieg je das Gefühl gehabt, man darf nicht sagen, was man denkt?
Nein, nie. Ich war der Meinung, dass man das sagen muss. Jetzt gucken Sie sich heute die CDU an, wie die sich um ein Verbot der NPD drückt. Was soll das? Von meinen Steuern bekommen diese Kerle etwa Wahlgelder. Ich bitte Sie. Da muss mal jemand einen Grundsatzprozess führen, der Naziopfer davon entbindet, die NPD mitzufinanzieren. Das regt mich auf. Und wie geschickt die das alles machen. Und das lassen wir uns gefallen. Ich bin jetzt im Alter sogar noch linker, noch radikaler geworden. Ich will ein sozialistisches Land. Eins, wo Gleichberechtigung ist, wo die Menschen gleiche Rechte haben und Mann und Frau auch. Eins mit Meinungsfreiheit und ohne Verlogenheit. Ich brauche Ihnen das ja nicht alles sagen.
Trotz des 68er-Aufbruchs sind Sie 1972 nach Israel gezogen.
Zuerst war ich mit den 68ern einverstanden. Sehr viele ihrer Ideen waren auch meine. Aber als sie dann erklärten, Israel sei ein imperialistischer Staat, den man bekämpfen muss, da dachte ich: Die spinnen. Israel war damals sozialistischer als Che Guevara. Es gab die Kibbuzim, die das Land aufgebaut hatten, und da stellen die sich hin und sagen, die seien Imperialisten, nur weil sie mit Amerika verbündet waren. Ohne Amerika hätte Israel sowieso nicht existieren können.
Die Kritik der 68er hat Sie verletzt?
Ja, da dachte ich: So, mit denen will ich jetzt keinen Kontakt mehr. Die Nazis reichen mir auch. Wissen Sie, immerzu kämpfen. Irgendwann reicht es. Ohne ein Wort Hebräisch ging ich nach Israel. Dort erlebte ich eine Solidarität, wie ich sie seit meiner Kindheit nicht mehr kannte.
So richtig heimisch haben Sie sich in Israel aber auch nicht gefühlt.
Es ist doch so: Hier hat man mir die Wurzeln abgeschnitten und so schnell wachsen die nicht nach. Israel war ja sehr anders. Ein Staat, zusammengesetzt aus Menschen von 70 Nationen. Da waren Leute aus Nordafrika, die noch nie etwas von der Gleichberechtigung der Frau gehört hatten, oder andere, die nicht wussten, was ein Wasserhahn ist. Andererseits brachten sie ihre Kulturen mit, ihre Musik, ihr Essen - was mir sehr wichtig ist. Alle diese unterschiedlichen Menschen zu integrieren, das ist der große Erfolg dieses Staates.
Sie haben 16 Jahre dort gelebt.
1987 wurde ich pensioniert. Bald danach tauchte Volker Ludwig vom Grips-Theater bei mir auf und fragte, ob er aus meiner Biografie ein Theaterstück machen kann. Ich sagte: ja. 1988 holte er mich zur Premiere. Danach wollte ich eigentlich zurück, aber plötzlich stürzten sich die Schulen auf mich, ich soll als Zeitzeugin in ihren Unterricht kommen. Ich dachte: Schön, machst du es ein halbes Jahr, dann werden die dich vergessen. Aber bis heute haben sie mich nicht vergessen.
Hatte sich die Bereitschaft zum Zuhören in Deutschland plötzlich geändert?
Die jungen Leute interessierten sich sehr für das, was geschehen war. Dazu kam dann noch die Wiederentdeckung der Blindenanstalt Otto Weidt. Dort habe ich während der Verfolgung arbeiten können. Weidt, das war ja so ein toller, auch ein verwegener Draufgänger, der alles tat, um die Juden, die bei ihm arbeiteten, zu beschützen. Mein Ziel ist es, dass das Zentrum dort ein Ort für die stillen Helden wird, die den etwa 1.700 Juden halfen, die in Berlin im Untergrund überlebten. Die haben ja ihren Kopf riskiert. Sie sind für mich die wahren Helden und Heldinnen Deutschlands.
Spürten Sie eigentlich durch diese Arbeit mit den jungen Leuten je so etwas wie Versöhnung?
Mit den Kindern, da wird einem manchmal leicht ums Herz. Wenn sie mit großen Augen fragen: Was, so war das? Aber mit den Alten - nein. Anfang der 90er-Jahre gab es hier eine Welle des Rechtsradikalismus. Da kriegte ich fürchterliche Post: Du alte Judensau, mach, dass du wegkommst. Das hat damals ein Journalist öffentlich gemacht. Darauf bekam ich auch Hunderte netter Briefe. Die schönsten waren von Kindern, die mir schrieben: Also wenn Sie mal Rat brauchen, dann kommen Sie zu uns, wir helfen Ihnen. Diese Briefe haben mich ermutigt, nicht das zu tun, was die Nazis wollen, nämlich zu gehen. Aber ich sag ganz ehrlich, mit Leuten meines Alters, da bin ich vorsichtig. Da will ich erst wissen, was Sache war. Mit denen ist eine Versöhnung nicht möglich. Es mag sein, dass ich manchen Unrecht tue, das ist nicht zu verhindern. Aber was damals passierte, das ist zu tief gegangen. Mit Leuten, die nach 45 geboren sind, da kenn ich keine Grenzen, mit den Alten schon.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken