Montagsinterview: Walter Momper zum Mauerfall 1989: „Die BVG fuhr nach Smog-Alarm-Plan“
Am 9. November 1989 stellten sich West-Berlins Regierendem Bürgermeister Walter Momper viele Fragen: Wie bringt man Dynamik in die Maueröffnung? Hat die U-Bahn genug Kapazität? Und wer bringt die Kinder ins Bett?
taz: Herr Momper, Berlin feiert in diesem Jahr den 20. Jahrestag des Mauerfalls. Ist das alles Schnee von gestern oder geht es noch um was?
Walter Momper: Es geht auch darum, wer den Mauerfall für sich in Anspruch nimmt. Der rot-rote Senat in Berlin hat ein ausgewogenes Gedenk- und Feierkonzept vorgelegt. Die anderen werden mit Helmut noch versuchen, das für sich zu reklamieren.
Mit Helmut?
Mit Helmut Kohl …
… obwohl Sie viel aktiver in der entscheidenden Nacht waren?
Na ja.
Der rote Schal: Als Mann mit dem roten Schal ist Walter Momper bis heute in der Welt bekannt. Seinen Ruhm verdankt er vor allem dem Mauerfall, der in seiner gerade mal anderthalbjährigen Amtszeit als Regierender Bürgermeister von West-Berlin passierte.
Der Niedersachse: Momper, Anfang 1945 im niedersächischen Sulingen geboren, war als Student nach Berlin gekommen. Hier arbeitete er sich vom Vorsitzenden der Kreuzberger Jungsozialisten zum Landes- und Fraktionschef der SPD hoch.
Der Rot-Grüne: Bei den Abgeordnetenhauswahlen im Januar 1989 verlor die CDU überraschend deutlich, die FDP scheiterte gar an der Fünf-Prozent-Hürde. Momper nutzte die Chance: Mit der Alternativen Liste (AL), dem Vorläufer des heutigen grünen Landesverbandes, gründete er die erste rot-grüne Koalition in Berlin.
Die Niederlage: Mompers Politexperiment scheiterte auch an den Folgen der Wiedervereinigung. Als die Polizei nach einer dreitägigen Schlacht am 14. November 1990 elf besetzte Häuser an der Mainzer Straße in Friedrichshain räumte, verlies die AL aus Protest die Koalition. Bei den schon angesetzten ersten Gesamtberliner wahlen verloren SPD und Grüne deutlich. Die SPD bildete fortan eine große Koalition unter Eberhard Diepgen (CDU), Momper aber war nicht mehr im Senat vertreten.
Die späte Ehre: Erst 1999 durfte Momper sich nochmals als SPD-Spitzenkandidat versuchen - vergeblich. Seit 2001 ist er Präsident des Abgeordnetenhauses.
Die ganze Geschichte: Wie Berlin sich im Herbst 1989 auf den Mauerfall vorbereitete, können Sie am kommenden Wochenende in der Sonntaz nachlesen.
Immerhin gibt es Stimmen die sagen, erst als Sie, der damalige Regierende Bürgermeister von West-Berlin, in der Abendschau des West-Senders SFB die Nachricht von der neuen Reisefreiheit bestätigten, hätten das viele Menschen im Ostteil der Stadt ernst genommen. Wieso konnten Sie eigentlich so sicher sein, dass das stimmt?
Ich war ja vorab informiert.
Sie wussten schon vorher, dass die Mauer fallen wird?
Es gab am 29. Oktober ein Treffen mit dem Ostberliner SED-Chef Günter Schabowski und dem Ostberliner Bürgermeister Erhard Krack. Die haben erstmal erzählt, wie froh sie waren, dass sie gerade Erich Honecker los geworden sind. Und dann sagte Schabowski, es werde Reisefreiheit geben für die DDR-Bürger, denn das gehöre zu einem modernen Staat.
Was haben Sie davon gehalten?
Ich dachte, oh, eine späte Einsicht, aber immerhin. Wir haben dann ganz konkret darüber geredet, wie das umgesetzt werden könnte. Schabowski meinte, es würden anfangs nur sehr wenige rüber kommen, weil die meisten DDR-Bürger ja erstmal einen Pass beantragen müssten.
Offensichtlich eine Fehleinschätzung.
Ich habe gleich gesagt, dass die bestehenden elf Grenzübergänge nicht ausreichen würden. Das hat er auch eingesehen. Die sagten dann noch, die Bundesregierung müsse helfen, weil die DDR-Bürger ja kein Westgeld hätten.
Später haben die alle 100 Mark Begrüßungsgeld bekommen.
Das war nach dem Mauerfall das witzigste Problem. Die Besucher nahmen das Geld an, gaben es aber nicht aus, weil sie eh alles geschenkt bekamen. Dadurch gab es keinen Geldrückfluss. Irgendwann hatte die Landesbank keinen Bargeldbestand mehr. Um weiter zahlungsfähig zu sein, musste über Nacht aus Frankfurt mit einer Militärmaschine Geld eingeflogen werden. Ich glaube, das waren sieben Tonnen Bargeld.
Das konnte erst nach dem Mauerfall geregelt werden. Gab es noch Punkte, die sich vorab klären ließen?
Es stellte sich das Problem, dass die DDR-Bürger nicht über Stadtpläne für West-Berlin verfügen. Die gab es ja im Ostteil nicht.
Sie haben daraufhin Stadtpläne besorgt?
Wir haben den Springer-Verlag beauftragt, 200.000 Infozeitungen mit Plänen zu drucken. Da hat sich der Tagesspiegel später noch beschwert, dass er den Auftrag nicht bekommen hat. Außerdem haben wir bei der BVG angefragt, ob sie mit ihren U-Bahnen und Bussen den Ansturm aus dem Osten bewältigen könnte.
Und war die BVG vorbereitet?
Die hatten einen Notfallplan für Smog-Alarm in der Schublade …
… also für den Fall, dass die Berliner Luft so verschmutzt ist, dass keine Autos mehr fahren dürfen?
Genau. Den haben die genommen.
Sie waren also gut vorbereitet. Wurde Ihnen auch ein Termin für die Maueröffnung genannt?
Es hieß nur, deutlich vor Weihnachten. Und wir sollten rechtzeitig informiert werden.
Der 9. November hat Sie dann aber doch überrascht?
Selbst Schabowski war ja überrascht. Der war ja für Propaganda zuständig, musste mit den Journalisten reden und hatte deshalb an den entscheidenden Minuten der Sitzung des Zentralkomitees der SED nicht teilgenommen. Kurz vor der berühmten Pressekonferenz hatte er von dem neuen Staatsratvorsitzenden Egon Krenz nur einen entsprechenden Zettel mit der Neuregelung der Reisefreiheit in die Hand gedrückt bekommen …
… den er dann ganz am Ende gegen 19 Uhr verlesen hat …
… mit dem Nachsatz, das gelte seines Wissen nach sofort.
Wann haben Sie davon erfahren?
Ich war an dem Abend beim Springer-Verlag zur Verleihung des Goldenen Lenkrads. Dort wurde ich von einem meiner Mitarbeiter informiert. Ich habe mich daraufhin bei Friede Springer mit der Begründung entschuldigt, dass die DDR die Mauer aufmachen würde. Das wurde da noch allgemein mit einem ungläubigen Lächeln abgetan. Ich wurde dann mit Blaulicht zum SFB gefahren.
Knapp eine halbe Stunde später waren Sie beim SFB, dem Sender Freies Berlin, live in der Abendschau. Wissen Sie noch, was Sie damals gesagt haben?
„Das ist der Tag, auf den wir 28 Jahre lang gewartet haben.“ Aber ich glaube, das hat so richtig keiner verstanden. Wer rechnet schon so schnell nach, dass 1961 der Mauerbau war. Richtig deutlich wurde es wohl erst, als ich die Ostberliner aufgefordert habe, ihre Trabbis und Wartburgs stehen zu lassen, und stattdessen mit S-Bahn und U-Bahn zu uns zu kommen.
Zu dem Zeitpunkt war die Mauer aber noch dicht. Haben Sie sich nicht ganz schön weit aus dem Fenster gelehnt?
Tatsächlich gab es auch in den Tagen zuvor immer wieder Nachrichten, die sich als Falschmeldungen herausstellten. Einmal hieß es zum Beispiel, dass alle DDR-Grenzsoldaten abgezogen worden seien. Später stellte sich heraus, dass da nur einige das Ende ihres Wehrdienstes feierten und deshalb an der Grenze nicht mehr präsent waren. Aber am 9. November dachten wir, wir müssen da jetzt ein bisschen Dynamik in die Sache bringen. Und im Laufe des Abends gab es auch die Nachrichten, dass sich Tausende an den Grenzübergängen im Osten versammeln.
Wie haben Sie darauf reagiert?
Es gab noch am Abend eine Sondersitzung des Senats. Und wir haben lange vergeblich versucht, die Alliiertenvertreter zu erreichen.
Amerikaner, Briten und Franzosen hatten damals die Oberhand über Westberlin. Und die konnten Sie als Regierender Bürgermeister nicht erreichen?
Das war nicht so einfach, es gab damals ja noch keine Handys. Schließlich bekamen wir heraus, dass die alle bei einem Fest des Regisseurs Ulrich Schamoni waren, der an dem Abend seinen 50. Geburtstag feierte. Außerdem musste ich mich noch um meine Kinder kümmern.
Ihre Kinder?
Meine Frau war an dem Tag in London. Ursprünglich war ich dorthin eingeladen worden, um eine Statue einzuweihen. Da hatte sie mich dann vertreten. Später hat sie mir das übel genommen, weil sie so den Mauerfall verpasst hat. Ich hätte an dem Abend eigentlich unsere Kinder ins Bett bringen sollen. Das haben dann zum Glück Nachbarn übernommen.
Sie sind später nochmal zu einer weiteren Live-Sendung des SFB gefahren.
Die hatten da eine richtig gute Idee. Im Westfernsehen lief an dem Abend irgendein wichtiges Fußballspiel. Es gab aber die Möglichkeit, alle Fernsehsendemasten, die an der Grenze zur DDR standen, gleichzuschalten, so dass man mit einer Sondersendung zum Mauerfall Ostdeutschland fast flächendeckend erreichen konnte. Was davon im Westen ankam, war in dem Moment zweitrangig.
Wann kam denn dann bei Ihnen die Nachricht an, dass die Mauer tatsächlich offen ist?
Kurz nach 23 Uhr bekam ich einen Zettel ins Sendestudio gereicht. Darauf stand, dass der Grenzübergang Bornholmer Straße offen sei und Tausende herüberkommen. Ich hielt das Papier in den Händen unter dem Tisch und dachte, wenn ich das jetzt vorlese, bricht ein Sturm los. Nur Minuten später gab es aber schon erste Live-Bilder von der Bornholmer Straße. Ich habe dann gesagt: „Meine Damen und Herren, Sie werden verstehen, dass ich jetzt arbeiten gehen muss“, und habe das Studio verlassen. Viele Zuschauer haben die Nachrichten zuerst für eine Inszenierung gehalten.
Wieso das?
Es gab mal in den USA eine Sendung über eine angebliche Landung von Außerirdischen, die viele für bare Münze genommen haben. Hier war es genau umgekehrt. Die Öffnung der Mauer war für viele unvorstellbar.
Wo haben Sie den Mauerfall dann erlebt?
Am Grenzübergang Invalidenstraße, direkt neben dem Hamburger Bahnhof. Da waren schon an die 10.000 Menschen. Bürger mit Pass wurden noch ordentlich abgefertigt, mit Stempel und allem. Die anderen sind einfach so durch. Ich habe mich dort auf einen Tisch gestellt, auf dem die Rentner sonst ihre Taschen ausleeren mussten, und die Leute per Megaphon begrüßt. „Liebe Berlinerinnen und Berliner, hier spricht ihr Regierender Bürgermeister …“ Eigentlich wollte ich die Menschen aus dem Übergang heraushaben – aber es war egal was ich gesagt habe, der Rest ging im Jubel der Menge unter.
Hatten Sie in der Nacht Kontakt zu Offiziellen aus dem Osten?
Nein. Ich habe nur mit einem Hauptmann der Grenztruppen am Übergang geredet. Erst Jahre später habe ich erfahren, dass der danach bei der Führung der Grenztruppen in Rummelsburg angerufen hat. Er hat durchgegeben, dass der Momper vor Ort sei und Volksreden halte. Schließlich hat er gefragt, ob er den Momper festnehmen solle. Der diensthabende Offizier hat aber einen lichten Moment gehabt und dringend davon abgeraten.
Hatten Sie selbst nie die Befürchtung, dass da noch etwas schief gehen könnte?
Natürlich. Es gab die ganze Zeit ein Gefühl von Angst und Sorge. Irgendwann waren in der Invalidenstraße plötzlich alle DDR-Grenzer verschwunden. Ich dachte, ich muss versuchen, die Menschen möglichst schnell aus dem Übergang herauszubekommen. Es hätte ja sein können, dass die Grenztruppen das Rolltor auf der Westseite dicht machen und von Osten her in die Menge schießen. Es hätte ja nur einer die Nerven verlieren müssen.
Wie hatten Sie sich auf so eine Situation eingestellt?
Seit der Öffnung des Zauns in Ungarn hatten wir so etwas x Mal durchgespielt. Es war klar: Irgendwann kommt der Sturm von hinten über die Mauer, so haben wir das immer genannt. Unsere Leute hatten zum Beispiel überlegt, wenn 600 Leute entschlossen sind und die stürmen über die Mauer, dann gibt es eine furchtbare Schießerei, ein Blutbad, aber dann sind die durch. Denn wenn sich die Grenztruppen verschossen haben, ist es erstmal aus. Bis sie wieder Munition von der Engels-Kaserne bekommen hätten, wären 20 bis 30 Minuten vergangen. Das konnte man nachrechnen. Wenn sich dann in Ostberlin rumgesprochen hätte, jetzt können wir alle abhauen, aber in einer halben Stunde ist Schluss, dann wären die alle dahin gepilgert. Dann hätte es eine Massenflucht gegeben.
Die Massenflucht gab es dann ja auch …
… aber der Auslöser war keine Schießerei, sondern ein Missverständnis über die Reiseregelung. Dass die DDR-Führung selbst der Auslöser war, das war das Überraschende und Erstaunliche. Das hat dann auch zum friedlichen Ablauf beigetragen.
Ab wann waren Sie sicher, dass beim Fall der Mauer alles gut geht?
Als ein Westberliner Polizist mit seinem weißem Mantel in der Mauerdurchfahrt den Verkehr regelte. Der stand in ständigem Blickkontakt mit einem Hauptmann der Grenztruppen und DDR-Grenzern und einem Polizeioberrat aus West-Berlin, die vom Wachturm den Überblick behielten. Da dachte ich, wenn die Zusammenarbeit so gut funktioniert, dann klappt das schon.
Haben Sie in der Nacht zum 10. November eigentlich noch geschlafen?
Kurz. Gegen drei Uhr morgens war ich zuhause. Um sieben Uhr sind wir schon wieder los, um nach Bonn zum Bundesrat zu fliegen. Als wir später wieder in Tempelhof landeten, gab es kein Durchkommen mehr. Die Stadt war so voll, dass wir über die Bürgersteige gefahren werden mussten. Allein auf dem Ku'damm waren 300.000 Menschen. Insgesamt kamen rund eine Millionen am ersten Tag aus dem Osten in den Westen.
Wahnsinn?
Wahnsinn. Ja, das wurde ja ganz schnell zum Wort des 9. November.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid