Montagsinterview M-99 Betreiber H.G. Lindenau: "Ick lass mir net vertreiben"
Hans-Georg Lindenau verkauft seit 25 Jahren im Kreuzberger "Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf" Sturmmasken, Bücher und Szenezeitschriften. Und er schwärmt von veganer Sahnetorte.
taz: Herr Lindenau, sollen wir Sie HG nennen?
Hans-Georg Lindenau: Klar, das machen doch die meisten.
Kurz vor Weihnachten hatten Sie mal wieder die Polizei im Haus. Es war die 53. Durchsuchung seit Bestehen des Ladens. Wie halten Sie das durch?
Ich singe. Und die Polizisten finden das gut, zumindest die Kreuzberger Patrouillen. Einige Staatsschützer nicht, die mobben mich. Die haben mich schon seit den 80ern im Visier.
Was singen Sie denn?
(HG hebt an zu einem Mix aus Volkslied und Operette)
In über 25 Jahren betreibe ich meinen Berliner Laden, trotz Gedankenpolizei.
Denn die wolln mir vertreiben, die Gedankenpolizei.
Hans-Georg Lindenau wird am 18. März 1959 in Bayern geboren. Mit 13 Jahren zieht er mit seinen Eltern nach Berlin. Das Gymnasium bricht er nach zwei erfolglosen Abiturversuchen ab. Stattdessen geht er arbeiten: als Zeitungsausträger und in einer Fleischerei, ab 1978 mit einem mobilen Büchertisch zu linken Szenepublikationen. Ausbildung und Studium absolviert er nicht.
1985 gründet er einen Infoladen in Kreuzberg, der bald unter "M99 - Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf" firmiert.
1989 verunglückt Lindenau lebensgefährlich in Kreuzberg. Passanten müssen ihn vor der Emmaus-Kirche wiederbeleben. Sechs Wochen liegt er im Koma, wacht querschnittsgelähmt auf. Die genauen Unfallumstände bleiben unklar. Ein Leben als "Pflegefall" lehnt Lindenau ab - im Alltag unterstützen ihn Bekannte.
In den 80ern ist Lindenau in der Hausbesetzerszene aktiv und engagiert sich nach der politischen Wende gegen Immobilienspekulanten in Kreuzberg. Aktuell kämpft er gegen die gerade erfolgte Kündigung seines Ladens.
Hans-Georg Lindenau lebt vegan, raucht nicht und trinkt keinen Alkohol.
Aber ick werde bleiben, ick lass mir net vertreiben.
Denn die Gedanken sind ja frei, trotz Gedankenpolizei-ei-ei-ei.
Aber wie in aller Welt, kostet Menschen die Freiheit der Gedanken ihr Leben, die Freiheit oder viel Geld, viel Geld.
Hjolerrarridiiiie, hjollerradikaal, hjolerrarridierriediiiie!
Die Polizei lässt sich ja vielleicht durch Singen besänftigen. Aber erst vor ein paar Wochen haben Unbekannte einen Brandanschlag auf Ihren Laden verübt - die Schäden sieht man immer noch. Sie vermuten Neonazis hinter der Tat. Haben Sie Angst um Ihr Leben?
Darüber rede ich nicht. Es ist jedenfalls nicht das erste Mal. Ich hatte bisher drei Brandstiftungen an meinem Laden.
Trauen sich Neonazis inzwischen nach Kreuzberg?
Die kaufen sogar bei mir ein, woanders kriegen sie es ja nie so billig.
Und das lassen Sie einfach so zu?
Das weiß ich doch oft gar nicht, die haben ja ihre Einkäufer. Einmal wusste ich es von ein paar Typen und habe Bilder von denen ins Schaufenster gehangen - warum soll ich mir mit meinen Augenproblemen die Mühe machen, die zu erkennen. Die erkennen sich doch selbst viel besser und sind dann nie wieder gekommen.
Hat sich Kreuzberg verändert in den letzten 25 Jahren?
Ich erlebe kein Kreuzberg, ich erlebe nur meinen Laden, weil ich den ganzen Tag drinsitze. Wenn, dann kommt Kreuzberg zu mir. Und die Touristen aus aller Welt kommen, um den Exotikpark hier zu sehen. Ich stehe ja seit Jahren in vielen alternativen Reiseführern.
Das M99 als Ihr Lebensmittelpunkt: Sind Sie ein politischer Einzelkämpfer?
Nein, ich bin eine Agaz.
Eine was?
Eine autonome Gruppe mit anarchistischer Zielsetzung. Ich will autonom sein von jeglichen Dogmatismen. Ich war zwar oft Kontaktadresse für alle möglichen Kampagnen, aber in Teilen der Szene schnell unten durch, weil ich in den Gruppen nie eine Linie voll durchgehalten habe. Deshalb nehme ich das Wort links auch nicht ohne Weiteres für mich in Anspruch.
Sondern?
Ich will nicht in Vereinfachungsbegriffen denken wie: die Szene, die Richter, die Staatsanwälte, die Polizei, der Staatsschutz. Ob Menschen sich nun Linke oder Grüne oder Bürger nennen, ist mir egal. Ich guck halt, wo ich mit wem Gemeinsamkeiten habe, und dann mache ich mit oder nicht.
Kam daher die Idee, einen Infoladen zu betreiben?
Ich habe 1980 begonnen, authentische Zeitdokumente zum Häuserkampf zu sammeln, weil ich gegen eine Zensur und Unterdrückung von aus meiner Sicht berechtigten Missstandsäußerungen war. Meine Idee von einem Infoladen war es immer, die Texte im Original zu veröffentlichen. Das ist doch auch demokratisch. Es wäre entmündigend, dem Bürger Literatur vorzuenthalten und zu verhindern, dass er sich selbst ein Bild machen kann.
Die Gerichte sehen das anders: Sie sind angeklagt wegen der Anleitung zu Straftaten, weil Sie die Zeitschrift Interim und ähnliche Druckerzeugnisse vertrieben haben, in denen Bauanleitungen für Brandsätze abgedruckt sind.
In 722 Ausgaben Interim sind seit 1988 unter rund 10.000 Flugblättern und Arbeitspapieren vielleicht ein paar Dutzend solchen Inhalts gewesen. Ich habe die nicht im Laden, um jemanden zu Straftaten anzuleiten, sondern weil ich ein authentisches Dokumentationszentrum dieser "grauen Literatur" sein will.
Und das überzeugt die Richter?
Ja, meist werden die Verfahren nach einem halben Jahr wieder eingestellt. Weil die Richter anerkennen, dass ich mich nicht mit allen Inhalten identifiziere und sie als Ladenbetreiber auch nicht alle kontrollieren kann und muss. Aber die Absicht des Staatsschutzes ist doch klar: Kampagnen der Szene im Keim ersticken und danach feststellen, dass es doch nichts Strafbares gab.
Sie verkaufen hier aber nicht nur Szenezeitschriften, sondern auch Pfefferspray und Teleskopschlagstöcke. Damit kann man Menschen auf jeden Fall verletzen.
Ja, sicher. Aber solche Sachen haben eine Mischfunktion und dienen auch der Selbstverteidigung. Vor allem liegen die Sachen bei mir nicht wie im Militaryshop ganz vorn im Laden. Ich lasse die Leute länger laufen und nachdenken, rede mit ihnen.
Verteidigen Sie sich und Ihre Ziele auch mit Schlagstock und Pfefferspray?
Ich selber brauche keine Waffen. Ich habe inzwischen mein Alter, meine Stimme und meine Performance. Damit habe ich viel mehr erreicht.
Sie wurden in der Szene immer wieder mal als Spitzel verdächtigt, weil Sie an vielen Aktionen beteiligt waren, aber nie im Knast landeten. Wie haben Sie es geschafft, immer auf freiem Fuß zu bleiben?
Ich saß tatsächlich nur zwei Tage ein und war immer gut über Razzien gegen mich informiert. Das hatte damit zu tun, dass ich aus der Polizei und Politik, vor allem von SPD-Leuten, Infos gesteckt bekommen habe. Es war in den 80ern im Interesse der SPD, den Häuserkampf nicht zu sehr eskalieren zu lassen.
Was war Ihr größter Coup?
Ich habe den Mauerfall mit eingeleitet.
Oha, das steht aber in keinem Geschichtsbuch.
Ich weiß. Aber Ende Mai 1988 haben wir mit bis zu 600 Leuten das Lennédreieck, gleich an der Mauer, besetzt. Fünf Wochen später wollte die Polizei räumen. Da habe ich mir ein Megafon genommen und zum Überklettern der Mauer aufgerufen. 200 Leute haben mitgemacht. Alles gewaltfrei, die Molotowcocktails hatten wir vorher der Presse übergeben. Der Westberliner Senat verlor daraufhin die Wahl, die Volkspolizisten servierten uns Frühstück. Die Aktion hat die Mauer ad absurdum geführt, für viel internationales Aufsehen gesorgt und die Mauer letztlich mit zu Fall gebracht.
Welche Konsequenzen hatte die Aktion für Sie?
Nach einem Tag sind alle wieder zurück nach Westberlin gefahren worden, ohne Probleme. Nur ich musste länger bleiben, weil ich einen Asthmaanfall hatte. Seit dem Tag wurde ich massiv durch bestimmte Staatsschützer gemobbt, hatte immer wieder psychosomatische Angstzustände und Suizidanfälle. Wenn die Attacken kamen, bin ich zu meiner Selbsthilfegruppe oder in die Kirche am Lausitzer Platz in Kreuzberg - ich dachte, da kann mir nichts passieren.
Auch am 22. September 1989?
Meine Todesnacht. Was da passiert ist, weiß ich bis heute nicht. Ich kann mich nur noch erinnern, dass ich einen Anfall hatte und in der Selbsthilfegruppe abgewiesen wurde, weil sie damit überfordert war. Dann wurde ich von Passanten leblos vor der Kirche am Lausitzer gefunden. Laut Augenzeugen soll ich vom Kirchturm gesprungen sein. Sechs Wochen lag ich im Koma, meine Eltern wollten schon die Beerdigung organisieren. Aber ich habe überlebt.
Seit dieser Zeit sitzen Sie querschnittsgelähmt im Rollstuhl. Hadern Sie mit dem Schicksal?
Natürlich. Aber es war auch der Punkt, an dem ich ein zweites Leben angefangen habe. Vorher war ich anderen gegenüber nie wirklich offen. Ich habe immer gedacht, ich mache was Tolles und alle Leute müssen davon erfahren. Nach der Lähmung habe ich mich gezielt für soziale Kontakte geöffnet.
Wie haben Ihre Freunde auf den Unfall reagiert?
Es war auffällig, dass mich nach dem Vorfall immer weniger besucht haben. Wenn die Menschen merken, es erdrückt sie, dass sie mir nicht helfen können, kommen sie lieber gar nicht mehr. Gerade in der Szene wirst du schnell ausgeschlossen und als Sicherheitsrisiko dargestellt, wenn du nicht richtig funktionierst.
Das sind ziemlich harsche Worte.
Ja, aber es gibt Teile der Szene, die Inquisitionspolitik machen. Die sagen, ihre Linie ist die beste und alles andere schade nur dem politischen Ziel. Ich wurde mehrfach angegriffen durch Boykottaufrufe.
Warum haben Sie der Szene trotzdem nie den Rücken gekehrt?
Ich hatte mich ja 1984 abgewendet. Da herrschte eine dogmatische Stimmung, wie ein Infoladen zu sein hat. Ich bin aber kein Kollektiv, sondern will mich als Einzelner in der Gemeinschaft entwickeln. Also habe ich ein Jahr auf dem Bau gearbeitet und dann 1985 meinen eigenen Laden, das M99, aufgebaut.
Beteiligen Sie sich heute noch an Demos?
Nur noch selten. Auch an Veranstaltungen kaum noch, weil da so viel geraucht wird. Aber ich bleibe Teil der Szene. Die ist so vielfältig, da gehöre ich auch dazu.
Viele würden eher von einer Zersplitterung der Szene sprechen.
Wenn Leute sich nicht auf ein gleiches Vorgehen einigen können, aber anerkennen, dass sie das gleiche Ziel verfolgen, dann ist das gut - die Faust hat viele Finger. Aber Zersplitterung ist schlecht, weil dann die einen ihre politischen Aktionen auf dem Rücken der anderen austragen. Das war ja der Grund, warum ich nie irgendwo dazugehören wollte.
Fühlen Sie sich manchmal einsam?
Ständig. Wenn ich als prominenter HG, der ich ja nun mal bin, auf Vollversammlungen gehe, gibt es entweder Jubelstürme oder Schweigen. Eine wirklich gleichberechtigte Auseinandersetzung mit mir gibt es nicht mehr. Auch als Rollstuhlfahrer bleibe ich ständig übrig.
Wer sind denn heute Ihre Freunde?
Ich bin zu jung für mein Alter und viel zu auseinandersetzungsbereit, deshalb wechseln die Leute oft, die mit mir zu tun haben, weil ihnen das zu anstrengend ist. Aber ich sage immer: Lieber anstrengend und differenziert als vereinfacht und oberflächlich. Es sind dann eher die jungen Leute, die sich darauf einlassen. Und nach fünf bis zehn Jahren gehen sie wieder.
Wie steht es um die Liebe?
Ich habe meine erste Liebe mit 38 Jahren gefunden, vorher gab es nur die Sache für mich. Außerdem wurde jeder vom Staatsschutz gemobbt, der mit mir zu tun hatte. Aber dann kam die Frau, der das nichts ausmachte und die mein vieles Quasseln annimmt. In London haben wir zusammengelebt, im Baumhaus - trotz Rollstuhl. Jetzt ist sie unterwegs auf Weltreise. Ich sehe sie noch zweimal im Jahr. Ich würde gern mehr mit ihr durch die Welt reisen, aber noch habe ich Verantwortung für den Laden.
Aber irgendwann wollen Sie ganz wegbleiben? Irgendwann soll es ein M99 ohne HG geben?
Seit zehn Jahren sage ich mir: Noch drei Jahre mache ich das hier. Die Repressionen gegen diesen Laden sind aber so hart, dass ich keinen finde, der ihn übernehmen kann. In den letzten 25 Jahren stand ich fünfmal vor dem Nichts: durch Krankheit, Beschlagnahmungen und Gerichtsverfahren, Hauseigentümerwechsel, Brandanschläge. Das hat mich Unmengen an Geld gekostet, ich zahle immer noch ab.
Sehnen Sie sich da nicht manchmal auch nach etwas Bürgerlichkeit, nach ein bisschen Luxus?
Ich brauche kein Geld zum Leben. Ich bin glücklich, wenn ich singen und vegane Schwarzwälder Kirschtorte essen kann.
HG, gibt es Leute, die Sie für verrückt halten?
Ja, natürlich. Immer wieder. Es gibt ständig Kritik an mir, aber ich höre auch zu und verändere mich. Ich will ja nicht ver-rückt sein - nicht entrückt von der Realität.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Spardiktat des Berliner Senats
Wer hat uns verraten?