Montagsinterview: Die Modebloggerin Mary Scherpe: "In Berlin schaut dich keiner an"

Mary Scherpe macht Fotos von Berlinerinnen und Berlinern und stellt sie in ihrem Blog "Stil in Berlin vor". Mode werde hierzulande zu sehr als Halligalli abgetan, bedauert die Stilistin.

"Ich glaube nicht an uninszenierte Fotos": Die Stilistin Mary Scherpe Bild: Julia Baier

taz: Frau Scherpe, Ihr Blog heißt "Stil in Berlin". Was ist denn Berliner Stil?

Mary Scherpe: Ich finde, er zeichnet sich in erster Linie durch eine allumfassende Sorglos-Attitüde aus. Im Vergleich zu anderen Städten mit ähnlicher Größe und Bedeutung ist der Berliner ein sehr entspannter und auch ein bisschen zurückgelehnter Zeitgenosse. Zumindest in der Modeszene: Man steht hier eher spät auf, die Frauen tragen selten hohe Schuhe. Ganz anders als Paris zum Beispiel, wo die Frauen fast alle hochhackig unterwegs sind.

Fotografin und Bloggerin: Mary Scherpe wurde 1982 in Sachsen geboren. Sie studierte Medieninformatik in Karlsruhe, danach sattelte sie um auf Kunstgeschichte und Japanologie in Berlin. 2006 startete sie ihren Streetstyle-Blog "Stil in Berlin", den sie mittlerweile mit einem Kompagnon, dem Kanadier Dario Natale, betreibt.

Stil in Berlin: Das Blog zeigt Fotos von Leuten, die den beiden auf Berliner Straßen vor die Linse gelaufen sind. www.stilinberlin.de ist ein typisches "Streetstyle"-Blog, in dem der Kleidungsstil ganz normaler Menschen - vor allem in Metropolen - dokumentiert wird. Diese Streetstyle-Seiten sind derart erfolgreich, dass sogar normale Modemagazine mittlerweile Fotos übernehmen, unter anderem auch von "Stil in Berlin". Im Winter erschien "Stil in Berlin" erstmals als Magazin, außerdem fotografiert Scherpe Kollektionen für Designer oder Theaterleute fürs Berliner "Theatertreffen". Mehr unter www.maryscherpe.de

Fashion Week: Die Sommerausgabe der Berliner "Fashion Week" läuft vom 7. bis 11. Juli. Die Modenschauen der Designer laufen unter dem Titel "Mercedes Benz Fashion Week" auf dem Bebelplatz, parallel zeigt die Modemesse "Bread & Butter" aktuelle Streetwear auf dem Gelände des stillgelegten Flugplatzes Tempelhof.

Die Straßen in Berlin sind ja auch wirklich schlecht …

In Paris sind die Straßen auch nicht besser. Das ist eine Entschuldigung der Berlinerinnen. Obwohl sie die gar nicht bräuchten, schließlich misst sich die Modeaffinität einer Stadt nicht an der Höhe der Schuhe.

Sie fotografieren Menschen, die Ihnen über den Weg laufen und interessante Sachen tragen. Woher kam die Idee?

Ich kannte ein finnisches Style-Blog und ähnliche Formate aus Japan und dachte, das könnte auch hier funktionieren. Mir war klar: Noch bin ich die Erste, aber ich muss sofort anfangen, in zwei Wochen macht es jemand anders. Es wundert mich zwar, aber ich bin immer noch eine der wenigen.

Als es jüngst um ein Verbot der Fashion Week auf dem Bebelplatz ging, sagte ein Abgeordneter: So eine "Halligalli-Veranstaltung" habe dort nichts verloren. Ärgert Sie das?

Es ist wirklich schade, dass Mode in Deutschland als Halligalli abgetan wird. Gerade am Bebelplatz gibt es nur Schauen, wo man morgens hingeht und nach 20 Minuten ist alles vorbei, abends um sieben Uhr ist Schluss. Die Partys steigen woanders. Ich mag dieses Zelt ja auch nicht so, das sieht aus wie diese Aldi-Bauten auf grüner Wiese. Da ist keine große Designfertigkeit dahinter. Aber wo soll die Fashion-Show denn sonst hin - etwa auf die Straße des 17. Juni? Das Mahnmal, das an die Bücherverbrennung erinnert, ist doch die ganze Zeit zugänglich. Und bei der Modewoche geht es nur um vier Tage! Der Weihnachtsmarkt macht wochenlang Rummel.

Warum wird denn Mode nicht ernst genommen?

Ein Grund ist sicher, dass die Modeindustrie in Deutschland nicht so einen Stellenwert hat wie etwa in Frankreich oder England. Dort ist Mode ein ganz wichtiger Industriezweig, mit Schneidereien, Stoffherstellern und so weiter. In Deutschland ist die Textilindustrie mittlerweile fast vollständig weggebrochen.

Was wollen Sie mit Ihrem Blog? Einen Stil prägen?

Wir nennen uns ja nicht "Der Stil in Berlin", sondern "Stil in Berlin". Wir zeigen unseren rein subjektiven Blick auf die Stadt.

Sie entdecken also jemand Interessanten - und dann?

Meine Kamera habe ich zwar immer dabei, aber zum Fotografieren gehe ich bewusst raus. Ich stelle mich an die Straße und gucke. Wenn die Leute etwa den ganzen Winter über in diesen schwarzen Zweireihern herumlaufen, dann sticht jede Abweichung von der Norm ins Auge. Ich fotografiere immer, was mir selbst gefällt. Das sind nicht unbedingt Sachen, die ich selber tragen würde. Es geht vielmehr darum, wie jemand Dinge kombiniert. Das kann die Nonchalance sein oder die Echauffiertheit, mit der das Ganze passiert ist.

Wann mache Sie Ihre Fotos?

Das hat vor allem praktische Aspekte: Montagmorgen sind weniger Leute auf der Straße. Und die auf der Straße sind, sind irgendwohin unterwegs. Wir brauchen Leute, die ein bisschen Zeit mitbringen. Weil in Berlin das ganze Leben eher spät losgeht, fotografieren wir meist ab zwei. Und gegen Ende der Woche.

Die Fotos entstehen meist an Münzstraße und Maybachufer. Warum dort?

Ich habe keine Zeit, mal nach Steglitz, Wilmersdorf und dann nach Neukölln zu fahren. An diesen beiden Orten sind viele Menschen unterwegs - man braucht eine gewisse Fluktuation. In Kreuzkölln gibt es außerdem viele junge Leute, die wenig Geld haben, aber Lust, sich komisch anzuziehen, sich über Mode ausdrücken. Mitte ist interessant, weil dort viele einkaufen gehen, dort sind Agenturen, Zeitschriften. Und Touristen.

Hat jedes Stadtviertel seinen eigenen Stil?

Klar. Wobei sich Kreuzberg 61 wieder von 36 unterscheidet. Und beides vom sogenannten Kreuzkölln. Dort gibt es viele Expats, Spanier, Skandinavier, die hier mal für drei Monate Praktikum machen. Mitte ist etablierter, die Leute haben mehr Geld, können sich auch was von jüngeren Designern leisten und drücken sich dadurch aus, dass sie Berliner Jungdesigner tragen. In Charlottenburg sind die arrivierten Westberliner. Oder Menschen, die aus Russland kommen und im Winter diese riesigen Pelzmützen tragen. Der Witwenstil ist aber in Wien besser. Da gibt es tolle alte Damen, die mittags ins Kaffeehaus gehen, dort ihre maßgeschneiderten Mäntel und Kostüme spazieren tragen.

Bei "Stil in Berlin" findet man vorwiegend junge, schlanke, europäisch aussehende Leute. Warum?

Ältere und korpulentere Menschen fragen wir auch, die lassen sich aber ungern fotografieren. Wir fragen außerdem mehr Junge, weil die Experimentierfreude offensichtlich mit dem Alter nachlässt. Am Maybachufer gab es auch schon ein paar türkische Frauen, die wir gerne fotografiert hätten, sie wollten aber nicht.

Wie lange dauert es vom Ansprechen der Leute bis zum fertigen Foto?

Zehn bis fünfzehn Minuten. Wir suchen mit ihnen einen geeigneten Hintergrund. Und dann fotografieren wir. Ohne Make-up und Licht, aber schon inszeniert. Ich glaube ohnehin nicht an uninszenierte Fotos. Mittlerweile schaffe ich auch, dass sich die Leute dabei entspannen und nicht aussehen wie ein Kaninchen vor dem Schuss des Jägers. Ich sage ihnen meistens, dass sie ihre Hände in die Taschen stecken sollen; viele wissen nicht, wohin damit.

Ihre Bilder sind meist Ganzkörperfotos.

Kommt darauf an. Oft taugen einfach die Schuhe nicht, dann fotografieren wir die Leute eben nicht ganz.

Lassen Sie mal Ihre Schuhe sehen …

Ach, ich habe das nicht so drauf mit den Schuhen. Ich habe aber zumindest eine Entschuldigung: Seit Jahren versuche ich, meine Schuhsammlung zu einer respektablen Auswahl auszubauen. Das ist schwierig, weil ich sehr große Füße habe.

Welche Trends gabs denn zu Hause?

Gar keine. Ich komme aus Oschatz. Das ist ein kleines beschauliches Städtchen zwischen Dresden und Leipzig. Genauer gesagt bin ich in einem winzigen Dorf zehn Kilometer entfernt davon aufgewachsen. Da gabs Kühe, Schweine, Pferde. Bauernhof eben. Meine Mutter ist nicht so eine übermodische Frau mit großem Kleiderschrank, wir hatten auch nicht die Sibylle zu Hause oder so.

Hatten Sie ein modisches Aha-Erlebnis?

Ich erinnere mich, dass ich Mitte der Neunziger mal mit meiner Mutter in Berlin war, da war ich zum ersten Mal bei H&M, ich habe mir ein T-Shirt gekauft. Aber eigentlich fing es an, als ich mit 19 das erste Mal für ein Praktikum länger in Berlin war. Beim Blick auf die Leute auf der Straße fiel mir auf, dass Berlin offensichtlich eine Atmosphäre schafft, wo viel mehr geht als in ostdeutschen Kleinstädten oder einer westdeutschen Verwaltungshochburg wie Karlsruhe, wo ich damals Medieninformatik studierte. Hier trauen sich die Leute mehr, keiner schaut dich an, anything goes. Ich begann, mich für Modefotografie zu interessieren, für Kollektionen, bestimmte Designer. Ich kam zur Mode, weil man damit wunderbare Bilder schaffen kann.

Unter "Stillos in Berlin" zeigen Sie Fotos vom abgerockten Berlin, ohne Personen. Wie prägt eine Stadt ihre Mode?

In Berlin gibt es eben viel Arbeitslosigkeit und viele Freiberufler. Berlin, das ist etwa der spätaufstehende Kreative, der den ganzen Tag im "St. Oberholz" verbringt. In Paris steht man unter dem Druck, chic sein zu müssen, New York ist eher karriereorientiert, das beeinflusst die Art, sich zu kleiden.

Haben Sie Ihren Stil geändert, als Sie hierher zogen?

Was mir in Berlin auffiel, war der hohe Anteil an Secondhand-Kleidern. Das kannte ich aus Karlsruhe nicht. Ich habe mir zum Beispiel ein Yves-Saint-Laurent-Kleid gekauft, das hätte ich mir sonst nie leisten können. In Berlin entwickelte ich auch eine große Affinität zu geblümten Sommerkleidern, die kaufe ich heute noch.

Sie tragen Männerhemd, Blazer und Anzughose in Dunkelblau, schwarze Schuhe ohne Socken, Sonnenbrille. Wie würden Sie diesen Stil beschreiben?

Das Männerhemd ist von Ralph Lauren, das habe ich second Hand gekauft. Derzeit mache ich wieder, was ich mit 16 schon gemacht habe: Männersachen tragen, Anzughemden, Anzughosen. Mir waren Frauenhosen immer zu kurz. Ich finde es interessant, dass derzeit Frauen in einem Katherine-Hepburn-Stil Männerkleidung tragen, dabei aber immer noch sehr feminin aussehen.

Gibt es etwas, das Sie nie tragen würden?

Ich würde zu nichts Nein sagen, es kommt immer auf die Kombination an. Aber ein Mädchenoutfit mit Rüschen-Chiffon-Kleid, Häkelstrickjacke und Riemchenschuhen, das wäre nicht so mein Look.

Nehmen wir die Frau da drüben: mit knallroter Jacke, gestreiften Leggings, Jeanskleid drüber. Schrecklich oder okay?

Bei ihr funktioniert dieses Mädchen-Ding, sie sieht entspannt aus. Schlechten Stil erkennt man, wenn wahnsinnig viel gezuppelt wird. Da gab es vor dem Spiegel offensichtlich Momente, in denen klar war: Wenn es hier nicht genauso weit nach unten gezogen wird, siehts komisch aus. Wenn Schuhe weh tun, muss man trotzdem laufen, als täten sie nicht weh. Ich mag, wenn jemand mit Mode spielen kann. Das ist auch Übungssache.

Wie erklären Sie Ihren Eltern, was Sie machen?

Für die bin ich in erster Linie Studentin. Meine Mutter kennt das Blog und freut sich, wenn sie mich mal im Fernsehen sieht. Aber ich sehe mich in erster Linie als Fotografin. Wobei ich sagen muss: So langsam wird es Zeit, dass ich mein Studium abschließe. Ich sitze gerade an meiner Abschlussarbeit in Kunstgeschichte.

Wollen Sie denn bei der Mode bleiben?

Das wird sich zeigen. In Deutschland gibt es immer dieses Vorurteil: Alle, die sich mit Mode beschäftigen, haben nichts Besseres zu tun. Und oberflächlich sind sie obendrein.

Sind sie nicht?

Sehen Sie, neulich lud ich auf unserer Facebook-Seite zwei Werbeplakate hoch. Das eine fand ich äußerst sexistisch, das andere rassistisch. Prompt kamen Kommentare wie: "Mode ist per se nicht politisch." Dabei ist gerade Rassismus leider alltäglich in der Mode. Man muss sich nur den Trend des Blackfacing anschauen.

Was ist das?

So nennt man es, wenn europäische Models schwarz geschminkt werden, so wie früher Othello inszeniert wurde. Karl Lagerfeld hat fürs Video zu seiner Schanghai-Paris-Kollektion neulich weiße Models als Chinesinnen geschminkt. Das geht einfach nicht. Gleiches gilt für einen aktuellen Trend in der US-Hipster-Szene: Derzeit ist es dort cool, sich als Indianer zu kleiden.

Das heißt?

Man trägt Federschmuck, legt die typische Bemalung an. Das ist nichts anderes als kulturelle Plünderung. Apropos politische Accessoires: Vor wenigen Jahren liefen alle mit Palis herum, den Palästinensertüchern. Aber wer das trägt, denkt doch nicht von zwölf bis Mittag! Zu sagen, das wäre nur Schmuck und keine politische Aussage, finde ich ganz schön naiv. Mode ist natürlich politisch!

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