Montagsinterview Cafe-Einstein-Chef Gerald Uhlig: "Ein unmoralisches Angebot"
Das Café Einstein Unter den Linden ist eine Berliner Institution. Einmal wollte ein Mann das Kaffeehaus kaufen - und bot im Gegenzug eine gesunde Niere. Die hätte der Inhaber Gerald Uhlig dringend gebraucht, denn er leidet an der lebensbedrohlichen Krankheit Morbus Fabry.
Taz: Herr Uhlig, wie geht es Ihnen?
Gerald Uhlig: Ich fühle mich gerade in der letzten Zeit gut und richtig kräftig, habe einen regelrechten Aktivitätsschub. Es gibt allerdings immer wieder auch Phasen, in denen ich schnell erschöpft bin und mich zurückziehen muss.
Herkunft: 1953 geboren in Heidelberg als Sohn einer pychotherapiefreudigen sächsischen Mutter, die nur im Reformhaus einkaufte, und eines schürzenjagenden Vaters, der den nahtlosen Damenstrumpf erfunden hat. Zwei ältere Geschwister.
Karriere: Musik- und Schauspielstudium an Max-Reinhardt-Seminar in Wien, Arbeit als Schauspieler, Regisseur, Librettist, Autor und Künstler. Von 1987 bis 1992 Moderator des wöchentlichen NDR-Rundfunktalks "Café Einstein - Tischgespräche mit Zeitgenossen". Seit 1992 diverse Ausstellungen seiner bildnerischen Arbeiten, Fotos, Collagen und Rauminstallationen.
Kaffeehaus: 1996 Gründung des Café Einstein Unter den Linden samt Galerie als Dependance des Stammhauses in der Kurfürstenstraße. Mittlerweile abgespalten mit Uhlig als alleinigem Inhaber.
Buch: "Und trotzdem lebe ich - Mein Kampf mit einer rätselhaften Krankheit" (DVA), in dem Uhlig seine Lebens- und Leidensgeschichte mit dem ererbten Gendefekt Morbus Fabry erzählt, der bei ihm erst im Alter von 53 Jahren diagnostiziert wurde.
Sie leiden an Morbus Fabry. Was genau ist das?
Eine seltene genetisch bedingte, also vererbte Multisystemerkrankung. Mir fehlt ein entscheidendes Enzym, das dafür da ist, Abfallprodukte, die ständig im Körper entstehen, zu entsorgen. Wenn dieses Enzym nicht vorhanden ist, lagern die Stoffe sich im Körper ab: am Herzen, an den Nieren, in den Blutgefäßen - überall. Sie müssen sich einen Fabrykörper wie eine Küche vorstellen, wo jahrelang niemand den Müll rausgebracht hat. Die Organe verschlacken und verkleben. Bei mir hat sich die Krankheit vor allem in wahnsinnigen Bauchkrämpfen und einem schrecklichen Brennen in Händen und Füßen geäußert.
Ihre Mutter ist an Morbus Fabry gestorben, ohne zu wissen, woran sie leidet …
Ja.
… und auch bei Ihnen dauerte es 53 Jahre, bis die Krankheit diagnostiziert wurde.
Ja, bei mir war die Wartezeit, Ungewissheit und Qual ein absoluter Rekord. Im Durchschnitt müssen Menschen, die an seltenen Krankheiten leiden, zwischen 10 und 30 Jahren auf eine Diagnose warten.
Wie kam es schließlich dazu?
Zufällig. Ich bin jahrzehntelang vom Kardiologen zum Nephrologen, vom Nephrologen zum Neurologen gelaufen - aber kein Arzt hat einen Zusammenhang zwischen meinen Symptomen herstellen können. In der medizinischen Ausbildung spielen eben hauptsächlich die Krankheiten eine Rolle, die auf dem Laufsteg der Wahrnehmung auf- und ablaufen: Krebs, Aids - die Bestsellerliste der Krankheiten eben. Für seltene Krankheiten wie Morbus Fabry fehlt es in der Ärzteschaft an Interesse und Know-how. Deshalb nennt man uns auch die Waisenkinder der Medizin.
Wer hat den Zusammenhang dann hergestellt?
Das geschah über meine Cousinen, die mir von ähnlichen Symptomen bei sich berichteten. Deren selten kompetenter Arzt hat dann eins und eins zusammengezählt: dass es sich nur um eine genetisch bedingte Stoffwechselkrankheit handeln kann und das dann auf Morbus Fabry eingegrenzt. Da lag ich schon im Krankenhaus.
Sie brauchten dringend eine neue Niere - und bekamen sie von Ihrer Frau. Deswegen sagen Sie immer wieder, das Café Einstein Unter den Linden habe Ihr Leben gerettet.
1996 haben wir das Einstein eröffnet, am 21. März, Frühlingsanfang. Kurz danach gehe ich zum Arzt, eine Routineuntersuchung, und der stellt eine Niereninsuffizienz fest. Das war natürlich ein großer Schock - erst recht, als ich merkte, wie schwierig es ist, in Deutschland ein Spenderorgan zu bekommen. Ich musste dann alle 14 Tage zur Kontrolluntersuchung und bekam jedes Mal mit, wie meine Nieren schwächer und schwächer wurden. Jetzt mache ich einen Ereignissprung: Eines Tages sitzt hier im Kaffeehaus eine Argentinierin, Mara Romero, die mir gefiel, und mit der ich mich deswegen bekannt gemacht habe. Und diese Mara Romero hat mir auf den Tag genau zehn Jahre später, am 21. März 2006, ihr Organ gespendet. Das Kaffeehaus, das ich mit viel Liebe aufgebaut habe und bis heute noch mit all meinen wachen Sinnen betreibe, hat mir etwas zurückgegeben, indem es mir meine Frau hierher geschickt hat, die mir durch die Transplantation ein zweites Leben geschenkt hat.
Auf den Tag genau zehn Jahre nach Eröffnung des Cafés?
Ja, das war aber purer Zufall, denn der Operationstermin war abhängig von der zu Ende gehenden Entgiftungsleistung meiner Nieren. So kam es, dass wir das Jubiläum in aller existenziellen Stille in der Klinik feierten.
Diese Geschichte erzählen Sie in Ihrem Buch, genau wie die von einer unheimlichen Begegnung hier im Café, die Sie in Gewissensnöte gestürzt hat.
Man hat ja schon viel davon gehört, dass in Schwellenländern Menschen für sehr wenig Geld ihre Nieren abgekauft und dann sehr teuer weiterverkauft werden, weil besonders in Deutschland aufgrund der desolaten Organspendegesetzgebung ein eklatanter selbstverschuldeter Mangel an Organen herrscht. Und dieser Mann, der eines Tages hier hereinschneit und seiner Frau das Café Einstein schenken will, bietet mir eine neue Niere an, vorausgesetzt, ich verkaufe ihm das Kaffeehaus. Was machen Sie also? Auf der einen Seite wollen sie nicht, dass der absolut gesunde Körper Ihrer Frau, die Ihnen dieses wundervolle Angebot gemacht hat, aufgeschnitten, ihr Leben gefährdet wird, auf der anderen Seite wissen Sie aber auch, dass Sie bald sterben werden, wenn Sie nichts unternehmen.
Ein Traum hat Ihnen dann die Entscheidung abgenommen.
Ja, dieser Traum hat mir nochmal auf unheimlich drastische Art und Weise klargemacht, wo diese Organe herkommen, wie die Schwarzhändler arbeiten, sodass ich mich schweren Herzens für das Angebot meiner Frau entschieden habe. Ich kann aber jeden Menschen verstehen, der in seiner Verzweiflung auf ein solches unmoralisches Angebot eingeht.
Warum haben Sie über Ihre Krankheit ein Buch geschrieben?
Weil ich zum einen gerne Bücher schreibe und sich zum anderen mein eigener Körperkrimi als Stoff geradezu aufdrängte. Dem Buch voraus ging ein Artikel im Spiegel über Morbus Fabry und mich. Dadurch wurde eine Familie in der Provinz auf die Krankheit aufmerksam, unter der alle fünf Kinder und die Mutter leiden. Auch sie sind wie ich jahrelang von Pontius zu Pilatus gerannt, ohne dass ihnen jemand helfen konnte. Jetzt, durch die Veröffentlichung, bekommen sie wie ich ein sündhaft teures Medikament gegen Fabry. Da war mir klar, wovon mein neues Buch handeln musste. Geschrieben habe ich es dann, als ich nach der Nierentransplantation nach Hause kam und noch zu geschwächt war, um wieder am Leben draußen teilzunehmen.
Warum ist Ihre Familiengeschichte darin so dominant geraten?
Eine Lust am Erzählen meiner Familiengeschichte hatte ich schon immer. Die Familie ist doch das Elementarste im Leben eines Menschen, und bei uns ging es dazu noch so tragisch bis komisch zu, also erzählenswert. Dramaturgisch gab es zwei Möglichkeiten: Entweder ich stelle mich als Identifikationsfigur zur Verfügung oder ich mache eine fiktive Geschichte daraus. In letzterem Fall hätte ich aber befürchtet, dass über das Problem des Organmangels in Deutschland hinweggegangen wird mit der Begründung, das sei ja Fiktion. Das ist aber keine Fiktion, sondern eine für uns alle bedrohliche Realität. Also habe ich die Tür in mein Innerstes geöffnet und lade den Leser ein, hindurchzuflanieren.
Wie politisch ist Ihr Buch?
Sehr. Einmal brauchen wir viel öffentliche Aufklärung über die seltenen Krankheiten - es leiden nämlich über vier Millionen Menschen darunter und viele wissen es nicht. Und wir brauchen in Deutschland dringend eine Widerspruchslösung bei der Organspende. Das heißt, jeder ist vom Gesetz her Spender, es sei denn er widerspricht. Im Moment haben wir die Zustimmungslösung, den freiwilligen Organspenderausweis, den kaum jemand besitzt, was die Wartelisten immer länger werden lässt. Täglich sterben bis zu fünf Menschen von der Liste. Die Wahrscheinlichkeit, zeitlebens zum Spender zu werden, ist um ein so vieles geringer, als Empfänger werden zu müssen. In Sachen Organspende muss ein neues Bewusstsein her. Da ist die Politik gefordert, das Thema auch wählerkompatibel rüberzubringen. Aber vorher müssen wir alle von unserem eigenen Verdrängen weg und eine andere Haltung der Endlichkeit und dem Tod gebenüber finden.
Wie kommen Sie darauf, dass das nötig ist?
Es kann nicht angehen, dass über 98 Prozent der Bevölkerung bei einer Umfrage gesagt haben, dass sie ein Spenderorgan zur Lebensverlängerung annehmen würden, aber nur 10 Prozent der Befragten nach ihrem Ableben auch ein Organ spenden würden!
Bei Ihnen im Café sind täglich viele Politiker zu Gast. Wie versuchen Sie, die zu überzeugen?
Indem ich mit ihnen darüber rede. Ich überfalle die Politiker nicht mit meinen Themen, aber wenn sich ein Gespräch ergibt, nutze ich die Gunst der Stunde. Ich habe auch schon Abgeordnete in ihren Büros besucht. Wenn ich dabei eine massive Abwehr diesem Thema gegenüber spüre, sage ich zum Abschied: "Ich wünsche Ihnen, dass weder Ihre Frau noch Ihre Kinder noch irgendein anderes Familienmitglied in die Situation kommt, nur durch eine Organspende überleben zu können."
Das zieht dann wahrscheinlich.
Ja, ich hoffe, dass das ankommt. Außerdem habe ich auch schon Kunststoffnieren in die Bäume vorm Einstein gehängt - mit der Botschaft "Organe wachsen nicht an Bäumen". Die Zeit der Kunstaktionen zu diesem Thema ist aber vorbei. Jetzt kann nur noch zwischen Medizinern und Politikern schnellstens eine Lösung gefunden werden. Sonst können wir die Transplantationsmedizin in Deutschland einstellen, weil es keine Organe mehr gibt. Man kann seinen Mitmenschen nur immer wieder sagen: Genießt euer Leben, wir haben jeder nur eines. Nach unserem Tod lösen wir uns wieder in unsere elementaren Bestandteile auf, und unsere Organe werden von den Würmern gefressen. Besser also man lässt nach seinem Ableben seine Organe auf Erden zurück und macht einen Menschen damit glücklich. Den Gläubigen unter uns will ich es ganz deutlich sagen: Es gibt keine Leiter zu einem ewigen Leben, für das wir unsere Organe noch bräuchten.
Warum kommen Politiker eigentlich so gerne ins Einstein?
Ich habe sie nicht gerufen, aber offenbar überzeugt sie das Ambiente und die Qualität unserer Speisen und Getränke. Ich bin ja Künstler, ein Mensch, der die geistige Institution Kaffeehaus in seiner Studienzeit in Wien lieben gelernt hat. Da habe ich die meiste Zeit im Kaffeehaus verbracht, und irgendwann wuchs dann der Wunsch in mir, selbst ein Kaffeehaus zu gestalten. Und dann habe ich ein Konzept geschrieben - wie für meine Kunstprojekte und Theaterstücke auch. Ich wollte ein Kunstwerk schaffen, in dem möglichst alle Gesellschaftsschichten sich unaufgeregt begegnen können, eine soziale Plastik. Die Seele eines Ortes können sie allerdings nicht konzipieren, das hat viel mit Intuition zu tun. Kaffeehaus ist ein geistiger Zustand, eine innere Befindlichkeit, eine sinnliche Lebensform. Es schenkt mir so viel, ist mir Labor, Atelier, private Universität. Ihre Kollegen haben den Politikertreff aus dem Einstein gemacht, "das Hinterzimmer der Macht", nicht ich.
Macht Sie das Etikett trotzdem stolz?
Es ist einfach so, ich wehre mich nicht dagegen.
Wie viele Politiker haben einen Stammplatz im Einstein?
Einige, zum Beispiel Otto Schily, den ich als Menschen sehr mag.
Und wenn ich mich auf Schilys Platz setze und er dann reinkommt?
Dann werden Sie nicht vertrieben. Bei uns können Sie sitzen, wo Sie wollen.
Das wäre in Wien ganz anders.
Ja, da mussten wir Max-Reinhardt-Seminaristen erst lernen, dass man sich seinen Platz im Kaffeehaus erarbeiten muss. Dagegen ist unser Haus sehr offen -auch weil wir sonst nicht überleben könnten. Wir haben hier - knallhart gesprochen - jeden Monat 26.000 Euro Miete zu bezahlen und könnten es uns schon daher nicht leisten, jemanden zu benachteiligen oder zu bevorzugen.
Sind Politiker nicht viel zu gehetzt, um gute Kaffeehausgäste zu sein? Fehlt denen nicht die Muße?
Wir haben zum Glück noch keine New Yorker Verhältnisse in Berlin - auch wenn es in Berlin-Mitte natürlich unglaublich viel Ungeduld gibt. Alle wissen, dass sie im Einstein frisch zubereitetes Essen bekommen und es daher ein bisschen länger dauert, bis der Teller auf dem Tisch steht. Nein, reinkommen, die Akten auf den Tisch hauen und dabei schon das halbe Schnitzel im Mund haben - so etwas gibts bei uns nicht. Das widerspricht dem Geist des Einstein. Es geht bei uns relativ entspannt zu.
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