: Monsieur Non
AUS SAINT-JUÉRY DOROTHEA HAHN
Rostrot. Das Display des Mobiltelefons hat diese satte Farbe. In eckigen weißen Lettern steht darüber: „Pour moi c’est non“ – „Für mich heißt es nein“. Jean-Luc Mélenchon ist stolz auf den Slogan. Wie ein Schulbub reicht der 53 Jahre alte bullige Mann sein Mobiltelefon herum. Der Satz ist seine Idee. Die Hintergrundfarbe hat er entliehen. Sie ist die einzige Anspielung auf seine Partei, die ihm verboten hat, ihr Logo und ihren Apparat für seinen Feldzug gegen die europäische Verfassung zu nutzen. Die PS ist für die EU-Verfassung. Mélenchon dagegen. Rostrot, das war 2002 die Wahlkampffarbe Lionel Jospins – des sozialistischen Präsidentschaftskandidaten, der von einem Rechtsextremen überholt wurde.
In Frankreich macht der Nein-Satz Karriere. Und mit ihm sein Schöpfer. Mélenchon wirbt für ein „non“ beim Referendum über die EU-Verfassung am 29. Mai. Im Rundfunk vergleicht er die EU-Verfassung wegen ihrer ideologischen Einseitigkeit mit der Verfassung der Sowjetunion. Sein Nein-Satz klebt an Tausenden von Mauern. Unter den Linken ist er einer der wichtigsten Gegner der Verfassung. Einer jener, gegen die sich Präsident Jacques Chirac gestern mit Hilfe des deutschen Kanzlers durch einen großen Auftritt zu wehren suchte. „Frankreich steht dann auf dem Bahnsteig, wenn der Zug vorbeifährt“, drohte Chirac. „Das ist nicht nur eine Frage der Vernunft, sondern auch des Herzens“, rief Schröder.
Mélenchon ist seit dreißig Jahren PS-Mitglied. Sagt, dass er zum Mobiliar der Partei gehört. Ist Chef der linken Parteiströmung. Sitzt – nachdem die Ausschlussanträge gegen ihn gescheitert sind – weiterhin im Führungsgremium der PS. Und ist Senator in der zweiten Kammer des französischen Parlaments. Aber seine Kampagne macht er ohne die Partei. Ein Teil der Basis unterstützt ihn. Überall in Frankreich entstehen Kollektive mit programmatischen Namen wie: „Sozialisten für Europa und gegen die liberale Verfassung“. Sie organisieren die Auftritte von Jean-Luc Mélenchon und den wenigen anderen Führungsmitgliedern der PS, die die Verfassung offen kritisieren.
Für die Parteispitze ist Mélenchon eine Persona non grata. Parteichef François Hollande nennt die linken EU-Verfassungsgegner in einem Atemzug mit den Rechtsextremen. Sogar Jospin ist nach drei Jahren aus seinem Ruhestand aufgetaucht, um „Parteidisziplin“ zu verlangen.
Die PS hat ihre 120.000 Mitglieder im Dezember zur EU-Verfassung befragt. 59 Prozent sprachen sich für die Verfassung aus. Seither ist das „Oui“ die offizielle Parteilinie. Die Veranstaltungen für ein „Non“ werden in keinem Parteiblatt erwähnt. In öffentlichen Mailkampagnen beschimpfen sozialistische Jasager ihre Genossen als „Lügner“.
Mélenchon weiß, dass ihm persönliche Polemik schadet. Also versucht er, die Schlammschlacht in den eigenen Reihen zu ignorieren. Er sagt: „Nach dem Referendum geht der gemeinsame Kampf weiter.“ Er gibt sich als braver Parteisoldat und beginnt seine Auftritte mit dem Satz: „Ich spreche nicht für die PS.“ Und fügt lediglich auf Nachfrage hinzu: „Wenn man von der Richtigkeit seines Anliegens überzeugt ist, kann man nicht schweigen.“ Werden die persönlichen Angriffe seiner langjährigen Genossen unerträglich, blockt er so ab: „Sie haben keine Argumente, um das Verfassungsprojekt zu verteidigen. Also attackieren sie uns mit zynischem und taktischem Kalkül.“
Fünf Monate nach dem Beginn der Kampagne ist Mélenchon, der einstige Hinterbänkler und längst vergessene Berufsschulminister unter dem früheren Premier Jospin, zu einer nationalen Berühmtheit geworden. Monsieur „pour moi c'est non“ spricht täglich vor vollen Häusern. Nicht einmal er selbst hätte erwartet, dass die Franzosen „eifrig wie die Benediktinermönche“ die Verfassung studieren würden.
In der Sporthalle von Saint-Juéry ist es an diesem Freitagabend im April mucksmäuschenstill. Wo sonst Rugby-Spieler aufeinander eindreschen, sitzen 600 Bauern, Eisenbahner und Studenten auf Klappstühlen. Viele mit einem Exemplar der EU-Verfassung auf den Knien. Der Text wird von Gewerkschaften, Parteien und Studentengruppen verteilt, in den Lokalzeitungen abgedruckt und liegt in den Buchläden neben der Kasse. Im Publikum sitzen viele, die 1995 an den Streiks im öffentlichen Dienst teilgenommen und seither weiter über die EU diskutiert haben. Viele von ihnen sind Mitglieder und noch mehr sind Wähler der PS. Die Region um die Städte Albi und Toulouse im Südwesten ist eine sozialistische Hochburg.
Nacheinander treten ein Eisenbahner, ein Biobauer und ein Genetikprofessor auf. Jeder analysiert die EU-Verfassung. Der Arbeiter und der Bauer zitieren Verfassungsartikel, die zu „noch mehr Produktivismus“ und „noch mehr Umweltzerstörung“ führen. Der Professor schilt das Menschenbild der EU-Verfassung als „darwinistisch wie im 19. Jahrhundert“. Dann ist Mélenchon an der Reihe. Der Politiker. Auf dem linken Revers seines dunklen Anzugs prangt der rostrote Sticker mit seinem Nein-Satz. In der Hand hält er ein Exemplar der EU-Verfassung, an dessen Seiten Dutzende von bunten Post-it-Zettelchen kleben. Er hält es hoch, begrüßt sein Publikum als das „so oft totgesagte Volk in Bewegung“ und rühmt: „Hier findet ein staatsbürgerlicher Mai 68 statt.“
Mélenchon ist Anhänger der EU. Er nennt sich einen europäischen Föderalisten. Er befürwortet eine europäische Verfassung: „450 Millionen Menschen – das braucht Regeln.“ Er hat beim Referendum über das Maastrichter Abkommen, das im September 1992 knapp angenommen wurde, mit „Oui“ gestimmt. Weil er den Euro als Mittel gegen Spekulation sah. Den Text der EU-Verfassung, den ein „von keinem Volk gewählter Konvent“ geschrieben hat, lehnt er komplett ab.
Er kritisiert das „Kauderwelsch“ als „Beleidigung für die Bürger“ und „Attentat auf die Demokratie“. Zeigt sich beunruhigt, weil die EU-Verfassung die „meisten Wege gesellschaftlicher Entwicklung außer der Revolution“ versperre. Und beklagt, dass das Europaparlament keine legislative Macht bekommt: „Das ist keine Demokratie. Das nennt sich anders.“
Den Kompromiss, wie viele Befürworter die EU-Verfassung nennen, sieht Mélenchon nicht. Er benutzt ein klassenkämpferisches „Wir“. Sagt: „Der Text verschafft unserem Gegner mehr Rechte und untergräbt das Arbeitsrecht und die Demokratie.“ Die Charta nennt er „Blabla“. Das angeblich neue Streikrecht? „Längst Vorbedingung für eine Mitgliedschaft in der EU.“ Das Recht auf Petitionen an die EU-Kommission? „Existiert schon jetzt.“ Die unternehmerische Aussperrung Streikender? „In Frankreich ist das verboten.“ Nicht einmal die Devise der EU-Verfassung findet bei Mélenchon Gnade: „In Vielfalt vereint“ – das sei etwas grundsätzlich Anderes als die französische Verfassungsdevise der Gleichheit vor dem Recht. „Das Recht auf Unterschied führt immer zu einem Unterschied der Rechte“, ruft er seinen 600 Zuhörern zu. Das Publikum von Saint-Juéry ist begeistert.
In der Sporthalle haben manche längst entschieden, dass sie gegen die EU-Verfassung stimmen werden. Andere fürchten die Konsequenzen eines derartigen Schrittes. Schließlich beschwört die Elite in Paris – von der Spitze der PS bis zur rechten Regierung und zu Staatspräsident Jacques Chirac – die Gefahr der Isolierung Frankreichs, des Verlusts an internationalem Einfluss bei einem „Non“. Und auch von ausländischen Regierungschefs kommen immer mehr Drohungen. Sie reichen von „Sackgasse“, bis hin zu „Katastrophe in der EU“ und der Klarstellung, es gäbe entweder diese oder gar keine EU-Verfassung. Für den Senator aus Paris sind das unbegründete Ängste. „Staaten haben Interessen“, sagt er, „wenn die Franzosen mit nein stimmen, stellen sich die anderen Europäer darauf ein. Dann wird neu verhandelt.“
Wenige Tage später steht Mélenchon mit weit ausgebreiteten Armen vor 5.000 Hauptstädtern in der Pariser Radsporthalle „Zénith“. Er ist eingerahmt von der KP-Chefin Marie-George Buffet, die ihn als Gastredner auf ihr Meeting eingeladen hat, dem Trotzkisten Olivier Besancenot und der grünen Neinsagerin Francine Bavay, die in ihrer eigenen Partei Dissidentin ist. Er spricht von einem „Glücksgefühl“. „Der Gravitationsschwerpunkt der Linken liegt nicht zwischen den Rechten und der PS, sondern zwischen der sozialistischen Bewegung und dem Rest der Linken.“ Er vergleicht die Stimmung in Frankreich mit jener, die dem gemeinsamen Programm der Linken vorausging, das Sozialisten und Kommunisten 1972 unterzeichneten. „Wir können gewinnen“, sagt er ganz vorsichtig, „aber sicher ist gar nichts. Die Kräfte des Geldes werden alles tun, um das zu verhindern.“
In der Führungsriege der PS bereiten mindestens vier „Elefanten“ eine Präsidentschaftskandidatur für das Jahr 2007 vor. Der Ausgang des Referendums wird auch über ihre persönlichen Karrieren entscheiden. Parteiintern müssen nach dem 29. Mai ohnehin die Karten neu gemischt werden. Mélenchon – der als junger Mann drei Jahre lang derselben trotzkistischen Sekte wie Jospin angehörte, „mit dem Unterschied, dass ich das nie verheimlicht habe“ – behauptet von sich, er sei „Kandidat für gar nichts“.
Auf jeden Fall will er künftig mehr Einfluss auf die politische Richtung seiner Bewegung nehmen. Und das europaweit. Mélenchon, der die Bezeichnung Sozialdemokrat als Beleidigung empfindet – „Ich bin Sozialist“ – will das „seit fünfzehn Jahren eingefrorene Denken“ in der europäischen Sozialdemokratie aufbrechen. Ihn stören die „rein defensive Linie“, die „Logik des kleineren Übels“, und „die Regierungen Schröder und Blair, die das liberale System verteidigen“. Die französische Kampagne gegen die EU-Verfassung wird diese Politik aufbrechen, hofft Mélenchon: „Die europäischen Sozialdemokraten werden überrascht feststellen, dass es in ihren Reihen noch Linke gibt.“