Mon Dieu Mondial: Der große Salzstreuer
■ Ohne die deutsche Mannschaft beginnt eine lange, finstere, graue, fußballose Zeit
Es regnet. Auf dem sorgsam mit drei Lampen indirekt ausgeleuchteten Fernsehschirm kämpft gerade Kotoryo gegen Hamamoshima. Wie zwei getretene Rehpinscher stürzen die beiden Sumoringer mit seltsamen, hochfrequenten Tönen aufeinander ein, wedeln mit ihren dicken Armen und rammen ihre Wänste zusammen. Interessant. Ein schöner Kampf. Kein Fußball, zugegeben, aber daran werden wir uns gewöhnen müssen. Keine Blutgrätsche mehr. Dafür Suridashi, die Grifftechnik von hinten. Nie wieder Klinsmann. Dafür Mitaisumi, über den mir der Kommentator berichtet, er heiße in Japan „Der große Salzstreuer“. Der große Salzstreuer. Den gab es bei der WM auch nicht. Ach ja, die Weltmeisterschaft.
Das waren Zeiten der großen Hoffnung und des allgemeinen Aufbruchs, als noch die Chance auf einen deutschen Weltmeistertitel bestand. Euphorisierte Kollegen balancierten lange vor Spielbeginn Tabletts mit Sektflaschen durch die Gänge, die Autorität der Vorgesetzten war untergraben, Anarchie. Fröhlicher Glanz schimmerte in aller Augen. Das Wetter war gut.
Auch allein betrachtet war Fernsehfußball eine Wohltat. In traumverlorener Leichtigkeit glitten die müden Finger nach getanem Tagwerk auf die Fernbedienung, der Zeigefinger auf die 1 und der Mittelfinger auf die 2. Ein kurzes Zucken nur, bei Irrtum ein zweites, und dann ein wohliges Grunzen: Vogts, Netzer, Feldkamp, Kürten, Faßbender, Hart- und Klinsmann und Matthäus. Ja, auch Möller und Ziege. Früher verhaßt, waren sie „fast so etwas wie verkappte“ (Heribert) Freunde geworden. Lauter liebe Bekannte rund um das Leder füllten das sonst so stille Wohnzimmer – der Abend war gerettet. Vorbei, vergessen.
Bei meinen Gastgebern in Kreuzberg herrscht stille Trauer. Es darf nicht gelacht werden. Mein unvorsichtiger Diskussionsbeitrag, es sei doch nicht so schlimm, wenn eine andere Mannschaft als wir Weltmeister würde, führt dazu, daß sich die Gastgeber schweigend vom Tisch erheben und die Wohnung verlassen. Kein Blick, kein Gruß. Sie haben ja recht. So etwas sagt man nicht nach solch schrecklichem Verlust.
Was bleibt mir noch? Der Fernsehapparat. Mal sehen, ob Netzer vernünftige Worte spricht. Von mir aus auch Feldkamp. Beruhigende Stimmen weiser, weißhaariger Männer. Erfahrene Auguren, scharfsinnige Analysten des Spiels und des deckungsgleichen Weltgeschehens! Kommt zurück! Nur einen will ich nicht sehen: Uwe Seeler, den Verräter. Hatte dieser zweckoptimistische Gaukler nicht in der Halbzeit unseres Schicksalsspieles Hoffnungen geschürt? Ekelhafte schönfärberische Prognosen abgegeben? Ein 2:1 in Aussicht gestellt? Schlange Seeler, schweig!
Aber auch Seeler ist nicht mehr da. Nur noch die Sumoringer. „Aiaiaiaiai! Ai!“ Wieder ist ein dicker Japaner aus dem Kreis geboxt worden. Ich werde umschulen müssen: Gerade hatte ich die Abseitsregel hinreichend verinnerlicht. Alles umsonst. Wo gibt es ein Sumobuch zu kaufen mit asiatischen Weisheiten darin wie „Der Ringer ist rund“ oder „Ein Kampf dauert neunzig Sekunden“? Wer kann mir von Koryotomishis Problemen mit dem Training seiner linken Gesäßbacke berichten und von den Ansichten seiner Frau zu diesem Thema? Bei welchem Bundesligasumoverein ringen Mitaisumi und Hamamoshi? Wie hoch sind ihre Ablösesummen? Hatten diese Männer schon einmal eine mentale Blockade nach der Einwechslung? Und was sagt der Bundestrainer dazu? „Aiaiaiaiaiai! Ai!“ Ach, Japaner, haltet doch die Klappe. Es regnet noch immer. Nein, es ist nicht mehr dasselbe. Stefan Kuzmany
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen