■ Mögliche Orte: Die Sommerstadt
Im Sommer, besonders wenn er plötzlich kommt, scheint die Stadt aus lauter Augenblicken zu bestehen. Alles möchte nun unbedingt Jetzt und da sein und beharrt auf Gegenwart, wie die Müllmänner, die den Schlaf am frühen Morgen schon in die Vergangenheit verweisen. Am Schreibtisch kommt die Sommerwelt aus dem geöffneten Fenster herein: Autos auf dem Kopfsteinpflaster, Rufe spielender Kinder, Parkettabschleifereien, Gesprächsfetzen, lädierte Tauben, die sich zwischen den Pflanzen im Blumenkasten ausruhen.
Berlin ist plötzlich, als sei man zu Besuch. Die Hanfpflanzen vor den Fenstern sehen sehr romantisch aus. Am Abend sitzt man draußen am Kanal und trinkt Bier und Selter, raucht, bis einem schlecht wird, und denkt über Sachen nach. Draußen ist immer gut, und wenn Frauen im kurzärmeligen Hemd den Arm heben, um mit der Hand die Augen von der Sonne zu entlasten, sieht man Busen. Die wirken manchmal rührend schutzlos und schön, deshalb macht man den Blick schnell wieder weg. Kleidung ist im Hochsommer wichtig. Ohne Kleidung ist es nicht so gut. Da wird der Körper schnell zur Sache, die nie nackt sein kann.
Die Dialektik zwischen roh und gekocht, nackt und angezogen kann man am besten im Freibad am Wannsee studieren, das ein bißchen provisorisch seit Jahren auf seine Renovierung wartet. Im Gegensatz zu angesagten Vorstadtgewässern wie dem Liepnitzsee ist es eher übel beleumdet – Algenpest und Prollberliner würden hier ihr Unwesen treiben, monieren viele –, doch eigentlich ist das Strandbad am Wannsee sehr schön. In englisch anmutenden Gartenanlagen auf der Terrasse spielen Rentner in weißen Sommerhemden Freiluftschach. Gemischtes Volk liegt sonntags hier Handtuch an Handtuch, ab und an hallt die Stimme des Bademeisters übers Gelände: „Der kleine Kevin sucht seine Omi. Er trägt eine blaue Badehose. Bitte beim Schwimmmeister melden!“
Trauerweiden spenden Schatten zum Lesen. Am meisten Spaß macht es jedoch, im grünen, flachen, pißwarmen Wasser spazierenzugehen und Leute anzugucken. Das machen viele. Die ersten 100 Meter Wannsee sind eine Art Promenade. Da geht man auch irgendwie würdevoll, weil das Wasser den gewöhnlich hastigen Schritt des Stadtbewohners hemmt. Dicke Männer kommen vorbei, die aussehen wie Walrösser. Viele haben ganz dünne Beine und erinnern an Kabarettisten. Andere haben angeberisch muskulöse Antisexkörper. Mädchen in gestreiften Badeanzügen werfen sich Bälle zu, weil das sehr schön aussieht.
Ein indonesischer Freund, der stets sein blütenweißes T-Shirt anbehält, ist ein bißchen eingeschüchtert von der Schamlosigkeit der Berliner. Denn viele Frauen tragen nur ein Bändchen zwischen den Pobacken und sehen aus wie Paviane. Die ausgestellten Hinterteile desorganisieren oft den Rest des Körpers. Interessant, wie viele Poformen es gibt. Manche ufern aus, andere sind viereckig, andere wieder wie runde, feste Bälle. Sieht komisch aus, besonders, wenn sie eingeölt sind oder drei nebeneinander herumflanieren: zwei Frauen und ein kleiner hähnchenbrauner Bodybuilder mit Hohlkreuz zum Beispiel, den das Sportstudio eher verunstaltet hat. Mit großem Ernst werden die Körper ausgeführt.
Manche Frauen haben rote Flecken am Po. Die kommen wahrscheinlich vom Sex oder Fahrradfahren. Faltig hängt verbrannte Haut an einer älteren Frau im superknappen Bikini. Eine Oma hat es nicht eilig, sich umzuziehen, und steht stundenlang mit blaugeäderten Brüsten und nackter Scham in der Sonne. Entsetzt schaut eine Türkin weg. Der Schamverlust verstärkt sich häufig im Alter. Da vergißt man ja auch alles. Normal wirken eigentlich nur die Kinder.
Die Schamlosigkeit sei nirgends so ausgeprägt wie in Deutschland, sagen viele und erklären das mit einer Kombination aus Dumpfheit, Sexfeindschaft, Protestantismus und Asozialität. Mich stört das alles nicht allzusehr. Gerade, wo das Wetter doch so glücklich daherkommt und die Abenddämmerung mit Cola so superangenehm stimmt.
Manches ist ja auch eher komisch. Der modebewußte junge Mann zum Beispiel, der mit seinen besonders gepflegten langen blonden Haaren grad besonders konzentriert vorbeistolziert, wohl weil er als einziger Mann hier einen String trägt und darüber einen Gürtel, an dem ein modisch schwarzledernes Wertsachentäschchen hängt. Detlef Kuhlbrodt
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