■ Mögliche Orte: Glücklich finden – Die Amerika-Gedenkbibliothek
Im Garderobenraum, unter dem feierlichen Satz eines amerikanischen Präsidenten, drängelten sich binnen kurzem rund hundert Menschen. Die Glastür ist geöffnet, aber niemand übertritt die Schwelle, obwohl die schwitzenden Körper bereits unangenehm gegeneinander gedrückt werden. Wegen einer Betriebsversammlung, so steht es auf einem Hinweiszettel, öffnet die Amerika- Gedenkbibliothek diesmal erst um 14 Uhr. Einige murren, die meisten warten geduldig, als ginge gleich der Winterschlußverkauf mit Superbilligpreisen los, und nur wer genügend Zurückhaltung aufbrächte, käme auch in den Genuß der feilgebotenen Waren. Tatsächlich finden sich hier dieselben elektronischen Sicherungssysteme wie im Kaufhaus. Massenhaft sind früher bibliophile Schätze aus den öffentlichen Büchereien geklaut worden und werden es wohl auch noch heute. Nun aber standen alle diesseits der unsichtbaren Schranke, und doch war es, als bräche gleich ein schrilles Surren los. Das Zeichen zum Einlaß war noch nicht gegeben. Wie zum Vorwand, als genössen sie die letzten Sekunden vor dem Ansturm des Publikums, richtete das Personal seine Computer her, die elektronischen Lesestifte zum Verbuchen und Registrieren der entliehenen Medieneinheiten, wie im Bibliotheksjargon die Bücher, CDs und Zeitschriften heißen.
Draußen vor dem Eingang hat ein Händler einen Büchertisch aufgebaut. Aber wo gratis ausgeliehen werden kann, scheint das Secondhandgeschäft nicht recht zu laufen. Gelegentlich versucht es einer der Schnorrer, die gegenüber vor Hertie in größeren Gruppen postiert sind, bei den Bücherfreunden, aber das Bettelgeschäft funktioniert vorm Kaufhaus offensichtlich besser als vor einer Leihbibliothek. Nach Einlaß dauert es nicht lange, dann hat sich die Traube Wartender in einzelne Geschäftige aufgelöst. Sofort bilden sich Schlangen an den Buchrückgabeschaltern, wo nicht selten Überziehungsgebühren fällig werden.
Das zu erwartende Palaver um Entschuldigungen und das Bitten um Kulanz bleibt erstaunlicherweise meist aus. Obwohl Geldverkehr hier durch den anberaumten Vorgang zwingend vorausgesetzt ist, reagieren die Angestellten gereizt, wenn die Entleiher die zu zahlende Summe nicht abgezählt vorlegen. Es handelt sich nun einmal nicht um einen Preis, sondern um eine Strafe. Durch eine grummelige, allgegenwärtige Unfreundlichkeit gibt sich die AGB denn auch nicht als Dienstleistungsbetrieb zu erkennen, sondern als Spezialfall der Berliner Verwaltung.
Im Lesesaal sind inzwischen zahlreiche Laden aus dem riesigen Register herausgezogen worden, die die Geheimnisse des Signaturenapparates preisgeben. In Plastikkörbchen liegen kleine Zettel für Notizen aus, von denen rege Gebrauch gemacht wird. Eingeweihte haben unterdessen die Computerterminals besetzt, um eine passende elektronische Auskunft über dieses und jenes Fachgebiet zu erhalten. Naturgemäß suchen viele Schüler, Studenten und Bildungsbeflissene aller Art die AGB auf, aber der Erwerb von Information und Wissen scheint bei weitem nicht der einzige Grund zu sein, warum man hierherkommt.
Die AGB ist auch ein Sammelplatz von Desintegrierten. Einige Besucher wirken wirklich verwirrt und streifen verstört durch die Regalreihen. Wieder andere scheinen bloß Gefallen an dem belebten Ort gefunden zu haben, die AGB ist ein Schauplatz gelingender Zivilität. Ein älterer Mann, der öfter herkommt, hat es darauf abgesehen, jüngere Menschen, bevorzugt Schülerinnen, in Gespräche zu verwickeln. Er erweist sich als sehr belesen, gibt Tips und Ratschläge und fragt den Wissensstand seiner jungen Freunde ab, die sich das Spiel eine Zeitlang durchaus gefallen lassen. Selten kommt es zu Zwischenfällen, das eifrige Suchen der meisten nach dem aufbewahrten Wissen der Welt hat eine besänftigende Wirkung. Ausraster zwischen den Regalen gibt es so gut wie gar nicht.
Die AGB ist eine Präsenzbibliothek, das unterscheidet sie von den großen Häusern wie die Staatsbibliothek, in denen es nach der Buchbestellung per Signaturenzettel lästige Wartezeiten gibt. Symbolisieren dort schon die überdimensionierten Abholpulte ein riesiges Reservoir der Kontingenz, alles müßte prinzipiell vorhanden sein, so bedeuten die engen Regalreihen in der AGB einen permanenten Mangel. Präsenzbibliothek heißt denn auch nicht, daß alles, was man zu lesen wünscht, an seinem Platz ist. Sucht man gezielt nach dem einen Werk, das man zur Weiterarbeit dringend benötigt, wird man oft enttäuscht. In die AGB kommt man nicht, um zu suchen, sondern um glücklich zu finden.
Während man in der Stabi immer gerade einen anderen durch zu lautes Sprechen oder desorientiertes Herumlaufen zu stören scheint, gehören die anderen in der AGB unbedingt dazu. Was die AGB von der großen Bibliothek unterscheidet, ist ihr soziales Durcheinander. Manchmal fühle ich mich dort wie in einem belebten Café. Als ob ich Zeitung läse, erfreue ich mich an dem Treiben. Wenn keine Betriebsversammlungen sind, ist auch der Einlaßstau erträglich. Harry Nutt
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