Besser Bauen gegen Wohnungsnot : 60 Quadratmeter sind zuviel
Der Architekt Van Bo Le-Mentzel ist durch seine Hartz-IV-Möbel und Tiny Houses bekannt. Nun baut er »richtige« Wohnungen, also kleine. Annäherung an einen ungewöhnlichen Changemaker.
„Bisher entstünde zu wenig und zu teurer Wohnraum, weil die Wohnungen von vornherein zu groß geplant werden und sich nicht am Einkommen der Bewohner*innen orientierten“
– Van Bo Le-Mentzel, Architekt
taz FUTURZWEI | Das Bild wackelt, der Ton rauscht, und es knackt. Van Bo Le-Mentzel (48) holt gerade zusammen mit seiner zweijährigen Tochter seine Neunjährige vom Turnen in Berlin-Friedenau ab, als er sich in einen Zoom-Call einwählt. »Kinder, geht mal zehn Minuten spielen. Papa muss telefonieren!«, ruft er gutgelaunt. Zum Weiterschieben des Kinderwagens braucht er beide Hände. Deswegen legt er das Handy zur Seite, direkt in den Buggy: dynamisch holpernd übers Kopfsteinpflaster zeigt die Kamera nun in den Himmel.
Das ist der Himmel über Berlin, eine der Großstädte, in der die Wohnungsnot immer schlimmer wird und die Mieten immer drastischer steigen. Es fehlen vor allem bezahlbare Wohnungen für einkommensschwache Gruppen. Ebensolche müssten bis 2030 eigentlich deutschlandweit pro Jahr 320.000 neu gebaut werden. Doch das bringen überhitzte Preise und Zinsen sowie Fachkräftemangel ins Stocken.
Die Baubranche schiebt Frust. Alle sprechen von »Krise« und »schwierigen wirtschaftlichen Zeiten«. Nicht so der freie Architekt mit dem Kinderwagen, der schiebt nicht nur voran, sondern krempelt auch die Ärmel hoch. Gegenüber Problemen eine kreative Haltung einzunehmen, gehört zu seiner Arbeitsweise: »Als Kind bin ich von Marvel Comics geprägt worden. Die Geschichte von Spiderman ist eine von Mut, Verantwortung und dem ständigen Streben, das Richtige zu tun – egal wie schwer die Umstände sind.«
Grundrisse für wenig Geld
Und wie kann man aktuell die Wohnungsnot lindern? Le-Mentzels Antwort liegt in einem Gesamtpaket aus Grundriss, Möbeln und Lebensstil. Es ist eine Kombination aus anders bauen und anders leben, die einen gemeinsamen Nenner hat: Es wird kleiner sein.
Bisher entstünde zu wenig und zu teurer Wohnraum, weil die Wohnungen von vornherein zu groß geplant werden und sich nicht am Einkommen der Bewohner*innen orientierten. Sogar kommunale Wohnungsbau-Unternehmen, so Le-Mentzel, hätten zwar den Auftrag, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, setzten aber bei der Wohnungsgröße auf die falschen Standards. »Warum trauen sich die Architekten nicht, Grundrisse für wenig Geld zu entwerfen?«, fragt er rhetorisch und antwortet selbst: »Die Aufgabe, eine Wohnung mit 60 Quadratmeter Nutzfläche zu bauen, ist einfacher als die Aufgabe ›Baut Vertrauen!‹ oder ›Baut Geborgenheit!‹«
Für die Alexandra-Stiftung realisiert Le-Mentzel in Berlin-Lichtenrade sein erstes Bauprojekt, das »Co-Being House« als Modell des platzsparenden Wohnens; parallel gründet er mutig eine Projektplanungsgesellschaft, die Gemeinwohlbau GmbH, damit er künftig selbst Grundstücke kaufen kann. »Ja, ich weiß, dass ist eine Branche, um die man eigentlich einen großen Bogen macht. Aber man braucht sie, um ›Häuser der Vielfalt‹ zu bauen. Und bei der Gemeinwohl GmbH kann man auch mitmachen!«, sagt er euphorisch.
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Capsule Hotels und DDR-Platte
Inspiration für sein Wohnkonzept hat er sich überall dort geholt, wo der zur Verfügung stehende Platz und die vorhandenen Ressourcen sich nicht einfach vergrößern lassen, aber dennoch ein gewisser Komfort geboten wird: in Capsule Hotels in Tokio, in Zügen, in Flugzeugen oder Wohnmobilen. Auch in der Geschichte der Architektur hat er sich umgesehen: beim Bauhaus oder bei den DDR-Plattenbauten WBS 70 mit ihren variablen Grundrissen.
Aus seinen Recherchen und Erfahrungen hat er das Programm »Kleinstwohnungen first!« entwickelt, ein Raumkonzept für unterschiedliche Einkommensgruppen. So gibt es zum Beispiel Azubis, Studierende oder alleinstehende Mütter, die weniger als 1.500 Euro monatlich zur Verfügung haben und maximal 335 Euro an Miete zahlen können. Oder junge Paare, die eine Wohnung brauchen, die nicht mehr als 665 Euro kostet.
Neben dem wichtigsten Aspekt, die Wohnungsgröße am Einkommen auszurichten, kennt Le-Mentzel auch allerlei bauliche Maßnahmen und Tricks, die small beautiful erscheinen lassen: hohe Decken, Sichtachsen, keine langen Flure. Die Ausstattung sollte ebenfalls eine bestimmte Ästhetik verfolgen und aus soliden Materialien sein.
Räumlich klein, aber gemütlich
Sich räumlich zu verkleinern, darf nicht als sozialer Abstieg interpretiert werden, meint Le-Mentzel. Im Gegenteil: Downsizing geht mit einem Zugewinn an Geborgenheit, finanzieller Unabhängigkeit, Zeitwohlstand und Freiheit einher, weiß Le-Mentzel aus eigener Erfahrung. Er wohnt mit seiner fünfköpfigen Familie auf 56 Quadratmetern. Alle Achtung, denn die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf in Deutschland im Jahr 2023 betrug 48 Quadratmeter.
Van Bo Le-Mentzel hat Erfahrung, wie man mit wenig Wohnraum viel anstellen kann. Denn bevor er sich mit Immobilien beschäftigte, baute er mobile Tiny Houses und gründete die NGO Tiny Foundation. Diese initiierte das »Not-Hotel«, das nur 2,5 Quadratmeter groß und auf der Ladefläche von Le-Mentzels Pick-up montiert ist. Seit drei Jahren, Nacht für Nacht, lässt Le-Mentzel Obdachlose darin schlafen und bietet ihnen einen Rückzugsort – auf seinem Parkplatz vor der Tür.
Nach Schätzungen der Wohlfahrtsverbände leben 10.000 Menschen in Berlin auf der Straße. Parkplätze gibt es 1,28 Millionen – mehr als zugelassene Pkw. Damn! Wieso geht sein »Not-Hotel« nicht in Serie?
„Hartz-IV-Möbel“ zum Selbstbauen
Mit Minderheiten, wie Obdachlose, Geflüchtete oder Illegale, im städtischen Raum ist Le-Mentzel schon während seines Architekturstudiums in Berührung gekommen. »Wir haben dort über verschiedene Milieus gesprochen, wie sie entstehen und welche Spannungen im Stadtraum sie erzeugen können. Dort habe ich die Grammatik gelernt, um Stadt zu denken. Für mich gehören alle zum öffentlichen Straßenbild«, sagt er.
Seitdem hat sich Le-Mentzel auch kritisch mit der Logik von Kapital, Besitz und Eigentum sowie mit den Bedingungen der Produktion von Wissen und dessen Zugang beschäftigt. Etliche Crowdfounding- und Open-Source-Projekte hat er in den letzten 15 Jahren realisiert und dabei nicht selten Stilikonen parodiert oder Luxusmarken entmystifiziert.
So schuf er zum Beispiel mit seinen »Hartz-IV-Möbeln« ein beachtliches Möbelsortiment zum Selbstbauen, mit dem man für wenig Geld ein 20 Quadratmeter großes Zimmer komplett zum Schlafen, Arbeiten und Erholen ausstatten kann. Seine Entwürfe erinnern bewusst an Objekte von Mies van der Rohe, Le Corbusier und Marcel Breuer.
Eigene Wohnung als Beispiel
Die Baupläne publizierte Le-Mentzel in einem Buch. »Und natürlich haben die Erben von Mies van der Rohe, Le Corbusier und wie die alle heißen mir Rechnungen gestellt. Für jedes Möbel, das ich nachgebaut habe, sollte ich 100 Euro zahlen. Das hat dann glücklicherweise mein Verlag bezahlt«, sagt er und muss lachen.
»Aber auch meine Methodenlehre für den Bau von Kleinstwohnungen werde ich demnächst publizieren. Und wer sich nicht vorstellen kann, kompakter zu leben und wem die Fantasie fehlt, in einer kleinen Wohnung glücklich zu werden, möge doch bitte unsere Wohnung am Berliner Mehringdamm …« »Besuchen oder besichtigen«, wollte Le-Mentzel wohl sagen, aber die Verbindung bricht ab. 🐾
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