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■ Mit allen Mitteln versuchen Pharmaunternehmen, Veröffentlichungen über wirkungslose Medikamente zu verhindern. Die Transparenz auf dem Arzneimittelmarkt könnte dem Geschäft schaden Von Friedrich HansenBittere Pille für Pharmaindustrie

Nirgends werden so viele dubiose Medikamente verordnet wie in Deutschland. Lediglich bei einem Drittel der rund 49.000 Präparate ist die Wirksamkeit überprüft worden. Mit strengeren Tests würden die Krankenkassen vier Milliarden Mark einsparen.

Seitenlang schwarze Balken ziert das wissenschaftliche Werk, das der Stuttgarter Gustav Fischer Verlag zum Jahresende auslieferte. Schon seit zwölf Jahren erscheint der „Arzneiverordnungs-Report“, in dem zwei Dutzend Autoren aktuell über den Medikamentenmarkt und die Verschreibungspraxis der Ärzte informieren. Doch mit der Ausgabe 1997, so behaupten gleich mehrere Pharmafirmen gleichzeitig, hätten die Krankenkassen, die neben Ärzten und Apothekern den Report finanzieren, unzulässig in den Wettbewerb eingegriffen.

Die Landgerichte Hamburg und Düsseldorf gaben den drei klagenden Pharmafirmen – Bionorica, Wilmar Schwabe und Strathmann – recht und untersagten im September die Veröffentlichung der umstrittenen Textstellen.

Eine Bresche für die Informationsfreiheit schlug erst das Landgericht Hamburg in einer weiteren, dritten Verfügungsklage. Anfang Dezember vorigen Jahres urteilten dessen Richter, daß es sich bei den bewertenden Beiträgen im Arzneimittel-Report um Meinungsäußerungen handele, die durch die Wissenschaftsfreiheit gedeckt seien und nicht über wettbewerbsrechtliche Vorschriften unterbunden werden können (315 0 600/97). Das Urteil kam indes zu spät, um die Auslieferung des Reports mit die inkriminierenden Schwärzungen noch aufzuhalten.

Für Axel Sander, Jurist beim Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI), handelt es sich bei dem Report nicht um das Werk unabhängiger Wissenschaftler, denn die Inhalte würden von den Projektträgern – Kassen, Ärzte und Apotheker – „gesteuert“. Geärgert habe den BPI ganz besonders, so Sander weiter, daß seit Herbst 1996 immer öfter Listen umstrittener Medikamente aus dem Report in Blättern von Kassenarztverbänden und Kassen auftauchen.

Dies verwundert allerdings, denn noch ist es nicht lang her – beispielsweise als das Herzmittel Isoket im Arzneireport 1991 gelobt wurde –, daß die Pharmahersteller den Report in fünfstelliger Auflage nachbestellten und ihren Vertretern als Werbematerial mit auf den Weg gaben.

Neu waren in dem jetzt geschwärzten Kapitel 46 in der Tat einige aufschlußreiche Listen mit entbehrlichen Arzneien nebst Vorschlägen, wie diese ersetzt werden könnten. Der Autor und zugleich einer der beiden Herausgeber des Arzneireports ist Ulrich Schwabe, Professor für Pharmakologie an der Universität Heidelberg. Als umstritten definiert er Arzneimittel mit nicht ausreichend belegter Wirksamkeit oder mit unzumutbaren Nebenwirkungen. Auch unsinnige Arzneikombinationen – in der Medizin ebenso verbreitet wie in der Homöopathie – gehören dazu. Denn dabei weiß niemand, welcher der kombinierten Wirkstoffe geholfen hat. Im Arzneireport werden die Wirkstoffe der 2.000 umsatzstärksten Medikamente auf dem deutschen Markt kritisch bewertet. Wegen solcher Informationen ist er für viele „ein extrem wichtiges Instrument zur Schaffung von Transparenz im Arzneimittelmarkt“, sagt Hermann Schulte-Sasse vom AOK- Bundesverband. Das Presseecho verschaffte dem Buch, das bislang nur eine Auflage von 7.500 Exemplaren erreichte, ungeahnte Popularität. Tatsächlich legt der Report den Finger in eine Wunde, die den betroffenen Pharmaherstellern zu schaffen macht: Sie heißt Innovationsschwäche. Das böse Wort vom Pharmaschrott, der den deutschen Markt vollmüllt, macht die Runde. 31.000 Arzneimittel ohne Zulassung sind hierzulande im Handel.

Sie verfügen über eine „fiktive Zulassung“, weil sie bereits vor 1977 im Handel waren. Danach galt das neue Arzneimittelgesetz. Und ein nicht unerhebliche Zahl von Pharmaherstellern lebt nicht schlecht davon. Neben den bereits genannten vier Klägern gibt es weitere Beispiele von Pharmaherstellern, die allesamt über fünfzig Prozent ihres Umsatzes mit überholten oder zweifelhaften Präparaten bestreiten.

Dazu gehören beispielsweise Dolorgiet, Engelhard, Hevert, Pohl-Boskamp, Schaper & Brümmer, Trommsdorf und Thiemann. Und solange sich der Verkauf steinalter Produkte – notfalls mit neuem Etikett versehen – lohnt, scheuen die Hersteller vor Innovationen zurück.

So waren im Jahr 1995 unter 2.278 in Deutschland neuzugelassenen Arzneimitteln gerade einmal 22 innovativ. Der Rest entfällt auf marginal veränderte Neuauflagen oder Nachahmungen. Dazu paßt ein Vergleich bei den klinischen Prüfungen vor der Markteinführung von Medikamenten: Die USA liegen mit jährlich 974 Studien vorn, gefolgt von Japan mit 443 und England mit 379.

In Deutschland kommen wir gerade mal auf 276 Prüfungen. Beim BPI – so berichten Insider – geben mittlerweile die Forschungsmuffel den Ton an, nachdem der Verband der forschenden Arzneihersteller (VFA) sich bereits vor Jahren abgespalten hatte. Mit dem Argument des freien Wettbewerbs, von den jetzt klagenden Pharmafirmen vorgebracht, hapert es ebenfalls. Denn es setzt voraus, daß die Krankenkassen eine „wirkliche Nachfragemacht“ hätten. „Die haben sie gar nicht, denn der Arzt verordnet, und die Kassen müssen bezahlen“, meint Wolfgang Becker-Brüser, Herausgeber des Berliner Arznei-Telegramms. Doch die Ärzte wissen immer weniger, was sie da so alles verschreiben. Nirgendwo in Europa, so befand die Vereinigung europäischer Pharmakologen in einer vergleichenden Studie, werden so viele Arzneien mit dubioser Wirksamkeit verordnet wie in der Bundesrepublik.

Zwar ist seit der Verabschiedung des Arzneimittelgesetzes im Jahr 1976 die Zahl der Präparate, die auf dem deutschen Markt gehandelt werden, von 140.000 auf 49.000 gesunken; der Umsatzanteil der umstrittenen Arzneien am Gesamtmarkt, so stand es im unleserlich gemachten Kapitel 46, halbierte sich im gleichen Zeitraum. Doch das reicht bei weitem nicht aus.

Deshalb hat es seit den Anfängen der Seehoferschen Gesundheitsreformen nicht an Versuchen gefehlt, auf gesetzlichem Wege den Markt komplett neuzuordnen – freilich bislang ohne nennenswerten Erfolg. Nach den aktuellen Daten des zuständigen Bundesinstituts verfügen lediglich 17.000 Medikamente über eine Zulassung, nachdem sie auf Wirksamkeit, Qualität und Unbedenklichkeit geprüft wurden. Etwa 2.500 dagegen sind durch diese Prüfung durchgefallen.

Von den Altarzneien gehören 25.400 zur Medizin und 5.800 zur Homöopathie oder Anthroposophie. Die umstrittenen Medikamente, so hieß es im Kapitel 46, haben die Kassen in den vergangenen zwei Jahrzehnten insgesamt 120 Milliarden Mark gekostet. Und das darf gemäß einer Übergangsfrist bis zum Jahr 2004 munter so weitergehen.

„Deshalb ist es für uns nicht akzeptabel, daß die Zulassung eines Medikamentes automatisch an die Erstattung durch die Kassen gekoppelt ist“, sagt Hasso Scholz, Professor für Pharmakologie an der Hamburger Uni-Klinik. Denn mitnichten sage die Zulassung einer Arznei in Deutschland immer etwas über deren Qualität aus. Deshalb benötigen die Ärzte, denen an einer rationalen Arzneitherapie gelegen ist, dringend zusätzliche Informationen.

Die vor kurzem veröffentlichten „Arzneiverordnungen für die Praxis“, herausgegeben von der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, sind da gewiß nützlich. Sie begnügen sich mit rund 800 Wirkstoffen, die sich auf 4.000 Präparate verteilen.

Doch daneben ist der umstrittene Arzneireport unerläßlich, denn er erschließt mit seinen Daten die beträchtlichen Einsparreserven bei den Arzneimittelausgaben. Er zeigt zudem den Gesundheitsplanern, wo gegenzusteuern wäre. Die Kassen könnten dadurch womöglich von Arzneimittelausgaben in Höhe von vier Milliarden Mark entlastet werden.s

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