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Mit Paul Spiegel hat der Zentralrat der Juden in Deutschland vermutlich zum letzten Mal einen Vertreter der Holocaust-Generation an seine Spitze gewählt. Die jungen Gemeindemitglieder fühlen sich von der alten Garde immer schlechter repräsentiert ■ Aus Berlin Philipp GesslerEin neues jüdisches Selbstverständnis

Ein Bonmot macht derzeit in jüdischen Kreisen die Runde: „Wer es nicht schafft, in die Fußstapfen von Bubis zu treten, ist doch eigentlich egal.“ Der vor fünf Monaten verstorbene Präsident des Zentralrats der Juden hat eine große Lücke hinterlassen, die scheinbar nicht zu füllen ist. Kein Wunder, dass der gestern gewählte Düsseldorfer Paul Spiegel (62) schon vor seiner Wahl in aller Bescheidenheit betonte, dass auch ihm Bubis’ Schuhe zu groß erscheinen. Geringe Erwartungen also – dabei sind die Probleme der etwa 80.000 Juden in der Bundesrepublik riesig. Probleme, die vor allem die betreffen, die in der öffentlichen Diskussion bisher kaum zu Wort kamen: die Jungen in der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands. Was erwarten sie vom neuen Zentralratsoberhaupt?

Sind es andere Erwartungen als bei den Älteren, da die 20-, 30-Jährigen meist nicht einmal mehr Eltern haben, die die Shoah bewusst erlebten? Wer sich unter den Jungen umhört, stößt auf sieben Themen, die alle bewegen. Die Stichworte heißen: Pluralisierung, die Rolle der Frauen, Shoah-Generation, Identität, das Demokratiedefizit in den jüdischen Gemeinden, die russischen Einwanderer und das zukünftige Wirkungsfeld des neuen Zentralratsvorsitzenden.

* Pluralisierung *

Die unterschiedlichen religiösen Strömungen drohen die jüdische Gemeinschaft zu zerreißen: Die Nachkriegsinstitution der Einheitsgemeinde als alleinige Repräsentanz der Juden in einer Stadt, einmalig in Europa, befürworten die Jungen dennoch – allerdings unter einer Bedingung: dass sie auch wirklich alle Traditionen unter den Juden in sich vereint. Es könne nicht sein, sagt etwa Claudia Nikoloff aus Karlsruhe, dass der Gottesdienst in ihrer Gemeinde nur nach dem konservativen Ritus begangen werde. Und dass der Zentralrat eine liberale Abspaltung der Heidelberger Gemeinde nicht dulden mochte und dieser Gruppe auch kein Geld überweisen wollte, findet die 22-Jährige nicht in Ordnung: Dann lieber keine Einheitsgemeinde, sagt sie.

Allerdings, räumt die Lehramtsstudentin ein, wird vieles schwieriger, wenn die Einheitsgemeinde ganz wegfällt: Sollte dann etwa noch für alle unterschiedlichen Richtungen ein eigener Religionsunterricht stattfinden? Könne man die Sozialleistungen der Gemeinden dann noch finanzieren? Igor Davidoski (24) aus Dortmund warnt: Ohne Einheitsgemeinde wird es schwerer fallen, die Zuwanderer zu integrieren: Die Russen brauchen größere Gemeinschaften, die ihnen effektiver helfen können, betont der in Odessa geborene Reisebüroleiter.

* Frauen*

Erstaunlich konservativ geben sich viele junge Jüdinnen bei der Frage, ob sich der neue Vorsitzende für mehr Mitsprache der Frauen in der Gemeinde einsetzen sollte. „Sicher“, erklärt Danielle Kohls, die Frauen sollten mehr Einfluss haben – auch wenn die weiblichen Stützen der Berliner Gemeinde, aus der sie ursprünglich stammt, „ganz schöne Furien“ gewesen seien. „Etwas komisch“, sagt sie aber, fände sie es, wenn Frauen so bestimmend wären wie in manchen amerikanischen Gottesdiensten – da sei sie doch eher traditionell. Das meint auch Olga Temerewa aus Rostock. „Ich muss am Schabbat nicht nach vorn zum Vorlesen gehen“, sagt die 20-Jährige, „für mich ist es gut so, wie es ist.“ Aber wenn einer Frau daran liege, solle sie das ruhig machen, betont die Medizinstudentin aus Wolgograd, die seit drei Jahren in Deutschland lebt.

* Demokratiedefizit *

Ein „ganz klares Defizit“ in Sachen Demokratie bei den Strukturen der jüdischen Gemeinschaft erkennt Jan Turner, der Chefredakteur einer Zeitung der Fleischerbranche ist. Allerdings, gibt der 32-Jährige aus Bad Wörishofen bei München zu bedenken, sei dieses Manko ja auch bei vielen Parteien zu beklagen. Die meisten, die sich in der Jüdischen Gemeinde engagieren wollten, betonen fast alle jungen Gemeindemitglieder, könnten dies auch, selbst im Zentralrat: „Die Leute, die wollen, kommen da auch rein“, sagt Danielle aus Köln.

* Shoah-Generation *

War es wirklich nötig, noch einmal jemanden aus der Shoah-Generation an die Spitze zu stellen? Viele der Befragten hätten sich ein jüngeres Oberhaupt des Zentralrats gewünscht: Der Rat hätte gut „junges Blut“ gebrauchen können, meint Boris aus Berlin. Bei Bubis, erzählt Danielle Kohls, habe sie der häufige Rückverweis auf die Shoah gestört – auch wenn er für das, was er erlebt habe, noch sehr milde gewesen sei. Sie habe Bubis damals in Schutz genommen, wenn ihre christlichen Freunde ihn als „Arschloch“ bezeichnet hätten. Die Holocaust-Erfahrung düfte zwar nicht unterdrückt werden, meint die angehende Verlagskauffrau, aber das Hauptargument für einen Kandidaten zum Zentralrat dürfe das nicht sein.

Eher eine Außenseiterposition nimmt in dieser Frage Igor ein: Es sei für die nicht jüdische Bevölkerung in Deutschland wichtig, so meint er, dass der Zentralratspräsident ein Shoah-Überlebender sei, der authentischer an das Grauen erinnern könne. Denn die Deutschen seien mit dieser Problematik noch nicht fertig, wie man etwa an der Diskussion über die Zwangsarbeiter sehe: „Das fängt erst richtig an.“

* Identität *

Auffällig ist, das alle Juden aus alteingessenenen Familien, Claudia, Jan und Danielle, es als eine wichtige Zukunftsaufgabe ansehen, unter den Juden in Deutschland eine neue Post-Shoah-Identität zu schaffen, die stärker religiös bestimmt ist – während zugewanderte Juden da zurückhaltender sind: Die Kenntnis von den eigenen Wurzeln und Traditionen, betont Claudia, werde immer wichtiger, sonst „kann das Judentum nicht überleben“. Den „Schatz der Lehre und der Religion“ müsse man wieder fördern, sagt der sonst so liberale Jan, man müsse sich „über Religion definieren“.

Dies dürfe aber, so werfen Igor und Olga, die beide noch in der UdSSR geboren sind, ein, nicht dazu führen, dass zugewanderte Juden ausgegrenzt würden, nur weil sie weniger religiöses Wissen haben. Schließlich sei es im früheren Ostblock kaum möglich gewesen, die jüdischen Traditionen zu pflegen: Die Gemeinde habe kein Recht, so hebt Olga hervor, zu unterscheiden, wer ein guter und ein schlechter Jude sei. Und Igor betont: „Wir gehören dazu, die gehören dazu.“

* „Die Russen“ *

Nach Meinung aller ist hier die Hauptaufgabe angesprochen, die sich der neue Zentralratspräsident stellen muss: der Integration der über 50.000 Zuwanderer aus Osteuropa, die die Zahl der Juden in Deutschland innerhalb von zehn Jahren verdreifachte. „Hier brennt es“, sagt Igor. In ihrer früheren Heimatstadt Berlin, klagt Danielle, hätten sich die zugewanderten russischen Jugendlichen im Jugendclub geweigert, Deutsch zu sprechen: „Wir haben da nie eine Lösung gefunden.“ Auch sie beklagt, dass die Russen von der Religion „keine Ahnung“ hätten.

Für viele Zuwanderer sei „die Religion mehr so oberflächlich“, sagt Claudia aus Karlsruhe. Ihre Gemeinde, erklärt sie, sei „überfordert“: Viele alteingesessene Juden zögen sich aus ihr zurück, da mittlerweile zu viel nur noch auf Russisch laufe. Von den Jungen seien etwa 90 Prozent Zuwanderer. Nicht wenige nutzten die Gemeinde vor allem dafür, sich in Deutschland zu etablieren – sobald dies geschafft sei, wendeten sie sich ab: „Das ist ganz offensichtlich.“ Deshalb sei es nun fast wichtiger geworden, die Alteingesessenen, von denen manche nun nach Frankfurt in die Synagoge fahren, wieder zu integrieren.

Olga und Igor sehen das differenzierter: Der Zentralrat und die Gemeinden müssten den zugewanderten Juden „Hilfe zur Selbsthilfe“ leisten, fordert Igor, damit sie die Sprache lernen und sich ein „jüdisches Leben“ aufbauen könnten. Wenn dies nicht gelinge, würden sich die Neuen abwenden und schnell „ein russisches Kulturzentrum gründen“. Olga sieht die Integration der russischen Juden als „Hauptaufgabe jedes Einzelnen an“ – da sei nicht nur der Zentralratspräsident gefragt: „Man kann nicht befehlen, freundlich zu sein.“

* Wirkungsfeld *

Welche Rolle soll schließlich der zukünftige Zentralratspräsident in der so genannten nicht jüdischen Mehrheitsgesellschaft spielen? Natürlich müsse er sich wie der bewunderte Bubis im öffentliche Diskurs der Bundesrepublik zu Wort melden – einig sind sich aber mit Spiegel alle, dass der Zentralratschef zukünftig stärker nach innen wirken müsse, in den etwa 75 Gemeinden. Vor allem die kleinen Gemeinden, meint Claudia aus Karlsruhe, bräuchten mehr Hilfe. Wenn der Identitätswandel in den Jüdischen Gemeinden nicht begleitet werde, mahnt Jan, lösten sich die Gläubigen von der Einheitsgemeinde und gründeten ihre eigenen Gruppen – zugunsten dieser Offenheit müssten die alten Strukturen aufgebrochen werden.

Die Mehrheitsgesellschaft, so sagen fast alle, brauche zwar noch die Mahnung an den Holocaust, aber wohl nicht mehr so häufig wie bisher. Denn, so findet Danielle: Die Deutschen seien doch mittlerweile ein „normales Volk – ein bisschen bekloppt, wie alle“.

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