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Archiv-Artikel

Mit Anstand töten

Wie muss eine Moral codiert sein, die Mord erlaubt? Ein Vorabdruck aus dem Buch „Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“

VON HARALD WELZER

In Geschehenszusammenhängen, die uns wie der Vernichtungskrieg und der Holocaust mit einer so außerweltlich erscheinenden Brutalität und Grausamkeit konfrontieren, dass wir uns in ihnen nicht zurechtfinden, neigen wir dazu, die Persönlichkeiten der Akteure binär zu entwerfen: Sie handeln moralisch oder amoralisch, gut oder schlecht, als Täter oder als Opfer, als Nazis oder Antinazis.

Menschen sind aber niemals eindeutig. Es gab überzeugte Nazis, die Juden gerettet haben, und man musste kein überzeugter Nationalsozialist sein, um sie zu töten. Die Bezugnahme auf die geistigen Besitzstände deutscher Kultur, auf Beethoven, Mozart, Goethe und Keller, die im „Dritten Reich“ gepflegt und zelebriert wurde, war den handelnden Personen keine zynische Ornamentik, sondern oft ein tief gefühlter Genuss, Teil ihrer Identität.

Die Wissenschaftler, die an eugenischen Konzepten tüftelten oder Pläne für die Besiedlung des „Ostraums“ entwarfen, waren keine „Pseudo“-Wissenschaftler, sondern kultivierte Menschen, die ihre international kompatible Qualifikation für antihumane Zwecke einsetzten; „katholische Geistliche segneten die Waffen für den Kreuzzug gegen den gottlosen Bolschewismus und wehrten sich gleichzeitig gegen die Euthanasieverbrechen“ (Götz Aly), und gewiss gab es nicht wenige Volksgenossinnen und -genossen, denen die Juden nicht geheuer waren, die aber trotzdem in jüdischen Geschäften einkauften, weil es dort preiswert war.

Und genauso gewiss gab es Menschen, die sich über die schändliche Behandlung jüdischer Gerichtsräte oder Ärzte echauffieren konnten und ein Gefühl des Beschämtseins darüber hatten, was diesen Menschen angetan wurde, die aber trotzdem die Gelegenheit nutzten, einen komfortablen Wohnzimmersessel oder ein hübsches Landschaftsbild dort zu kaufen, wo es eben günstig war: bei den „Judenkisten“ in Hamburg etwa, wo die arisierten und geraubten Einrichtungsgegenstände der zur Emigration gezwungenen oder deportierten belgischen und holländischen Juden im Hafen verhökert wurden.

Auch wenn wir uns selbst betrachten, zeigen sich gelegentlich erhebliche Diskrepanzen zwischen unseren moralischen Ansprüchen und unseren Handlungen; wir sind je nach Situation zu höchst unterschiedlichen Deutungs-, Handlungs- und Redeweisen in der Lage, erlauben uns „schlechtes“ Verhalten trotz „besseren“ Wissens, beherrschen Lüge, Widerspruch, Missachtung ebenso gut wie das Gegenteil: Vertrauen, Integrität, Anerkennung. Und eine solche Selbstbetrachtung zeigt sofort auch noch etwas anderes: dass wir, wenn wir gedanklich das Patchwork unserer moralischen Existenz durchmustern, bei jeder Facette, die uns selbst moralisch als etwas fragwürdig erscheint, sofort zu legitimieren versuchen, weshalb wir dies oder jenes wider ein vorhandenes besseres Vermögen getan haben, warum wir unter unseren Möglichkeiten geblieben sind, was der Grund war, dass wir lügen, betrügen, verraten oder enttäuschen mussten.

Erstaunlicherweise finden wir meist solche guten Gründe, die ein als falsch empfundenes Verhalten nachträglich sinnhaft und damit wenigstens für uns selbst gerechtfertigt erscheinen lassen, und wir brauchen solche Gründe, um unseren eigenen moralischen Ansprüchen gerecht werden zu können, selbst wenn wir ihnen „ausnahmsweise“ zuwidergehandelt haben.

Ich glaube, meine Herren, dass Sie mich so weit kennen, dass ich kein blutrünstiger Mensch bin und kein Mann, der irgendwie an etwas Hartem, das er tun muss, Freude oder Spaß hat. Der aber andererseits so gute Nerven und ein so großes Pflichtbewusstsein hat – das darf ich für mich in Anspruch nehmen –, dass ich dann, wenn ich eine Sache erkenne und als notwendig erkenne, sie kompromisslos durchführe.“ Dieses Zitat stammt von Heinrich Himmler, und es ist gewiss kein Zufall, dass Täter wie er oder der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß immer wieder betont haben, dass es eine unangenehme, der eigenen „Menschlichkeit“ widerstrebende Aufgabe war, Menschen zu vernichten, dass sich aber gerade in der Selbstüberwindung zum Töten die besondere charakterliche Qualität der Täter zeige.

Es geht hier um die Verkoppelung von Töten und Moral, und es ist diese Verkoppelung zwischen der Einsicht in die Notwendigkeit unangenehmer Handlungen und dem Gefühl, diese als notwendig angesehenen Handlungen gegen das eigene mitmenschliche Empfinden auszuführen, die den Tätern die Möglichkeit gab, sich noch im Morden als „anständig“ zu empfinden, als Person, die „ein Herz hatte“, die „nicht schlecht war“ (Rudolf Höß).

Wenn die Täter autobiografisches Material – Tagebücher, Aufzeichnungen, Interviews – hinterlassen haben, zeigt dieses in der Regel ein auffälliges Merkmal. Selbst wenn die betreffenden Personen offenbar keinerlei humanen Zurechnungsmaßstab für das zu haben scheinen, was sie angerichtet haben, sind sie doch regelmäßig ängstlich darauf bedacht, nicht als „schlechte Menschen“ dazustehen, sondern als Personen, deren moralisches Vermögen gerade auch im Rahmen der extremen Situationen ihres Handelns intakt geblieben war.

Der Wunsch, als moralisch handelnde Personen angesehen zu werden, existiert, so weit ich sehe, für alle Täter, gleichgültig, wie ihr Bildungsstand, ihre hierarchische Position, ihre Intelligenz ausfiel. Noch Kurt Franz, Stellvertreter und Nachfolger von Franz Stangl als Kommandant des Vernichtungslagers Treblinka, ein ausgewiesener Sadist, unter dessen Kommando etwa dreihunderttausend Personen und mindestens 139 durch seine eigenen Hände brutal getötet wurden, behauptet, „dagegen“ gewesen zu sein, und führt als biografischen Beleg für seine Haltung an, „niemals in meinem Leben irgendwo mit irgendwelchen Juden Schwierigkeiten gehabt“ zu haben.

Es geht ihm auch um eine Unterstreichung seiner Integrität, die auf eine Differenzierung zwischen dem eigenen moralischen Vermögen und der geforderten mörderischen Aufgabe hinausläuft. Man muss dabei im Auge behalten, dass zwischen dem Zeitpunkt der Tat und dem der Rechtfertigung ein Wechsel des Referenzrahmens stattgefunden hat: Während das Töten von Juden, Behinderten, Sinti und Roma bis 1945 als moralische, im völkischen Sinn notwendige Handlung betrachtet wurde, galt es nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ als durch und durch amoralisches Handeln.

Auf diesen Wechsel des Referenzrahmens reagieren die Täter, indem sie Geschichten erzählen, die davon handeln, wie „menschlich“ sie unter unmenschlichen Verhältnissen gehandelt haben. Das ist wahrscheinlich nur zum Teil bewusst gelogen. Es spricht einiges dafür, dass sie daran auch selbst glaubten.

Das verweist eindringlich darauf, dass wir bei der Analyse von Täterhandeln nicht von einem universalistischen Moralkonzept ausgehen können, nach dessen Maßstäben die Täter ganz zweifellos unmoralisch gehandelt haben, sondern mit einem partikularen Moralkonzept konfrontiert sind, das von unserem abweicht, aber in der Sicht der Akteure Geltung beanspruchen und ihr Handeln anleiten konnte.

Diese partikulare nationalsozialistische Moral beinhaltete als zentrales Moment die Vorstellung erstens von einer absoluten Ungleichheit von Menschen, die aus der Sicht der Akteure wissenschaftlich begründet war, und zweitens die Setzung, dass diese Ungleichheit eine Bedrohung für die nach rassistischen Kriterien höherwertige Gruppe von Menschen bedeutete, der man um des eigenen Überlebens willen begegnen musste.

Im Licht einer solchen partikularen Moral musste es keineswegs einen Widerspruch darstellen, wenn man aus rassenbiologisch begründeten Überzeugungen, aber auch aufgrund einer „völkischen Weltanschauung“, der Auffassung war, dass das „Judentum“ an sich eine Gefahr darstellte, während man gleichzeitig persönlich gar nichts gegen einzelne Juden hatte. Im Gegenteil: Die Einsicht in die historische Notwendigkeit, die feindliche „Rasse“ in letzter Konsequenz zu vernichten, kann moralisch begründet sein, gerade wenn die Maßnahmen dem eigenen „mitmenschlichen“ Gefühl widersprechen.

Vor diesem Hintergrund ist etwa die Formulierung eines Angehörigen eines Erschießungskommandos einzuordnen, der nach der Exekution einer Gruppe von zweihundert Juden, die zum Teil den Schützen persönlich bekannt waren, gesagt hat: „Menschenskind, verflucht noch mal, eine Generation muss dies halt durchstehen, damit es unsere Kinder besser haben.“

Auch das partikulare nationalsozialistische Moralkonzept, vor dessen Hintergrund sich die Täter orientieren und bewegen, verpflichtet das Individuum auf ein Handeln, das über seine eigenen Interessen und über seine eigene leibliche Existenz hinausgeht und einem Gemeinwohl dient.

Hier wird deutlich, dass das, was einem solchen Gemeinwohl dient und was als moralisch richtiges Handeln gilt, epochen- und gesellschaftsspezifisch definiert ist. Deshalb sind Moralkonzepte prinzipiell anfällig dafür, praktisch mit jeglichem Inhalt gefüllt werden zu können, weshalb es etwa auch als moralisch akzeptabel oder sogar notwendig erscheinen kann, bestimmte Personengruppen aus dem Geltungsbereich moralischen Handelns auszuschließen.

Diesen Geltungsbereich kann man in Anlehnung an Helen Fein als „Universum der allgemeinen Verbindlichkeit“ bezeichnen. Worum es sozialpsychologisch geht, ist eine verallgemeinerte Definition von Zugehörigkeit und Ausschluss, die auch die Ebene subjektiv gefühlter Selbstverständlichkeiten des Umgangs umfasst.

Solche „Universen allgemeiner Verbindlichkeiten“ können gruppen- und kulturspezifisch natürlich höchst unterschiedlich definiert sein und beziehen sich in der Regel auf eine mehr oder minder weit ausgelegte „Wir-Gruppe“, aus der von vornherein bestimmte andere Gruppen ausgeschlossen sind. Ein zentraler Mechanismus auf dem Weg zum Völkermord scheint nun aber in der Tat darin zu bestehen, dass auch Personengruppen, die ursprünglich, peripher oder gar zentral, dem Universum allgemeiner Verbindlichkeit zugerechnet wurden, sukzessive aus diesem ausgeschlossen werden.

Die erste Stufe aller bekannten Genozide liegt darin, dieses Universum der allgemeinen Verbindlichkeit neu zu definieren, das heißt, Kriterien von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zu entwickeln, diese Definition normativ zu begründen und die Zugehörigen auf die zugrunde liegende partikulare Moral zu verpflichten.

Der entscheidende Punkt aber ist: Der Grund dafür, dass die weit überwiegende Zahl der Täter an ihrer Aufgabe nicht zerbrach, obwohl viele von ihnen vielleicht tatsächlich gegen ihr „eigentliches“ Empfinden töteten, liegt darin, dass die Tötungsmoral des Nationalsozialismus sowohl persönliche Skrupel als auch das Leiden an der schweren Aufgabe des Tötens normativ integriert hatte. Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, dass die Sprache des Nationalsozialismus aus den „Befehlsempfängern“ die „Befehlsträger“ gemacht hatte – Transporteure von Zwecken, die an ihrer Last auch selbst leiden konnten. Genau deshalb konnte es als Ausweis von intakter Moralität gelten, im Töten „anständig“ geblieben zu sein. Und das wiederum setzt voraus, dass sich die Definition dessen, was Recht und Unrecht ist, insgesamt verschoben hatte – sodass das Töten von Menschen als „gut“ gelten konnte, weil es der Volksgemeinschaft diente. Insofern ist es im Rahmen einer Moral wie der des Nationalsozialismus „normal“, Dinge zu tun, die nach Maßgabe einer universalistischen Moral verboten sind. In diesem Sinn sagt Hannah Arendt über Adolf Eichmann, „dass er ‚normal‘ und keine Ausnahme war und dass unter den Umständen des Dritten Reiches nur ‚Ausnahmen‘ sich noch so etwas wie ein ‚normales‘ Empfinden bewahrt hatten“. Mit der Verschiebung des normativen Rahmens wird zum abweichenden Verhalten, was zuvor als integriert gegolten hätte, und umgekehrt.

HARALD WELZER, Jahrgang 1958, ist Direktor des Center for Interdisciplinary Memory Research am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Der Auszug aus seinem Buch „Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden“, S. Fischer, Frankfurt am Main 2005, 332 Seiten, 19,90 Euro, wurde leicht gekürzt