: Mit Adorno gegen die Aromen
Distinktion für Unentschlossene: „Was die Welt nicht braucht“, ein Almanach von Annette C. Anton und Daniel Kiecol
Der Begriff ist ein wenig aus der Mode gekommen: Alltag. Vielleicht liegt es daran, dass man sich heute lieber mit den Biografien von Politikern, mit Aktien, neuen Technologiemärkten oder Genetik beschäftigt. Die Kulturteile der Zeitungen jedenfalls haben nicht mehr so viel übrig für die Beschreibung alltäglicher Dinge und Situationen. Trotzdem ist der Wille zur Distinktion, das Wühlen in den feinen Unterschieden noch nicht ganz ausgestorben. Sonst würde der Piper Verlag auch keine Bücher veröffentlichen, in denen Autoren darüber philosophieren, was Einstein seinem Friseur erzählte – oder eben einen Reader über Dinge, die die Welt nicht braucht.
Für diese Dinge interessieren sich Annette C. Anton und Daniel Kiecol. Die beiden schauen gerne auf Verfehlungen, die Menschen Mitte dreißig dazu treiben, ihre Anrufbeantworter mit vorgeblich witzigen Ansagen zu besprechen oder sich trist im Partnerlook zu kleiden, wenn die Partnerschaft zur Gewohnheit wird. Ebenso tadelnswert sind aber auch sämtliche Trendprodukte und andere Zeitgeistgrillen wie etwa „Extremsport“, weil sie das Leben unter dem Diktat von Marken und Corporate Design vereinheitlichen, bis alles falsch geworden ist. Offenbar macht es immer wieder Spaß, Beispiele für den Horror der Kulturindustrie sich auszudenken, die „Schimäre des Urtümlichen“ zu geißeln oder sonst irgendwie Adorno zu zitieren. So kommt man in 76 Kapiteln von „Aroma“ – die Künstlichkeit ist der Tod des Geschmacks – bis „Zungenpiercing“ – lassen sich Teenager-Mädchen machen, weil es so schön zu ihren Plateausohlenturnschuhen passt.
„Ehrliche Rockmusik“ ist unerträglich, die ins Haar gesteckte Sonnenbrille nur ein Zurschaustellen eitlen Müßiggangs stilloser Sekretärinnen. Das alles liest sich ohne große Einwände weg. Schließlich sind die Abneigungen und Idiosynkrasien, mit denen Anton und Kiecol ihre Umwelt zurechtweisen, ziemlich exakt auf solche Menschen abgestimmt, die sich wegen allzu unübersichtlicher Verhältnisse grämen: die nicht entscheiden können, ob sie heiraten oder weiter in Wohngemeinschaften leben sollen. So versucht die Aufzählung, über einen negativ beschworenen Konsens versprengte Individuen zusammenzuschweißen – und bedient sich dabei der selben Logik des Einschlusses wie die Werbung, deren Reduktion auf oberflächliche Übereinstimmungsreize doch zugleich ausgiebig verachtet wird.
Am Ende ist alle Kritik an der „Generation Golf“ nur der Wunsch nach einer anderen verbindlichen Generation. Das macht die Angelegenheit doch sehr berechenbar, während etwa Wiglaf Droste oder Max Goldt aus genau diesen Zwangsbündnissen meist den Weg der Erkenntnis wissen, dass die Feinde ihrer Feinde auch ihre Feinde sind. Deshalb: Scheiß auf den korrekt bestellten Espresso, her mit „Jacobs Café Zauber Vanille“. Und dann auch wieder nicht. So viel Widerspruch muss sein.
HARALD FRICKE
Annette C. Anton / Daniel Kiecol: „Was die Welt nicht braucht – von Chatten bis Waschbrettbauch“. Piper Verlag 2001, 268 Seiten, 29,80 DM
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