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Mist oder Mythos? Wo deutsche Geister sich scheiden

■ Lindenstraße auf Großbildleinwand in Waller Kultur-Zentrum Kairo / Mutter Balmer fast leibhaftig

Sonntagabend, 18.40 Uhr: Genüßlich zurückgelehnt starrt alles gebannt auf den Griechen. Wassily hat von Deutschland die Nase voll: „Ich gehe zurück nach Griechenland.“ Wut und Wehmut spiegeln sich in seinen schwarzen Augen, als er verbittert murmelt: „Und das Akropolis verkaufe ich auch...“

Gespannte Stille im Lokal und wehe dem, der ausgerechnet jetzt etwas bestellen muß. Die ganze Kneipe verfolgt schaulustig das dramatische Geschehen. Niemand hier will sich auch nur die klitzigste Kleinigkeit entgehen lassen, wenn Mutter Balmer in der 214. Folge der Lindenstraße den Weihnachtsbaum abtakelt. Schon recht nicht, wenn die Super -Mutter überlebensgroß erscheint: Auf Großbildleinwand in einer Waller Kneipe.

Die Initiatoren dieses Mammut-Media-Spektakels brauchten keinen Flop zu fürchten. Seitdem die Lindenstraße vor rund vier Jahren erstmals über den Kanal ging, hat sich um die deutsche Familiensendung eine treue Fangemeinde aller Alters - und Gesellschaftsgruppen geschart. In Jugendzentren finden „Lindenstraßen-Marathons“ statt, Avantgardekünstler (Max Goldt voran) nahmen eigens einen „Lindenstraße-Sampler“ auf, und die Titanic orakelt was vom Mythos der Zeitgenoss(inn)en. „Was jetzt das tolle an der Lindenstraße ist, kann ich gar nicht sagen. Ich hab‘ mich einfach daran gewöhnt, die Serie gehört zum Sonntag wie die Sportschau zum Samstag“, erzählt Katja vom Kairo. So entstand denn auch die Idee, in der Kneipe eine Großbildleinwand just für dieses sonntägliche Ereignis aufzustellen.

Und siehe da: die Fans kamen. Nicolai ist schon von Anfang an dabei. Kein Sonntag ohne Mutter Balmer & Co. „Man darf's nicht verpassen, sonst kommt man nicht mehr rein. Die Lindenstraße ist einfach die einzige deutsche Fernsehserie, die man sich bedenkenlos ansehen kann. Jeder erkennt sich da irgendwo wieder. Man wird einfach süchtig, weil man wissen will, wie's weiter geht. Außerdem sind die auch immer ganz aktuell. Aids und Totalverweigerer hatten sie auch schon.“ Klar, daß das alles auf so einer Riesenleinwand noch besser rüberkommt: Da zeigt sich nun Tanja, die „Lolita der Lindenstraße“ in voller verführerischer Lebensgröße, und außerdem macht das gemeinsame Gucken einfach mehr Spaß.

Mein Freund schrubbte am Sonntag derweil lieber in aller Einsamkeit das Klo. Er ist schon ein seltenes Exemplar, denn sein (harmlosester) Kommentar zu dieser Super-Serie lautet „Mist“.

Doch kein Mythos? An dieser Frage scheiden sich die deutschen Geister.

Elke Weber U-Satz:!!!!

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