Missbrauch im Film: Sie hat ihn angefasst
In dem zum Teil in Bremen gedrehten Familiendrama „Die Hände meiner Mutter“ erzählt Florian Eichinger vom Missbrauch, an den sich das Opfer spät erinnert
BREMEN taz | Der Filmtitel ist auf eine verstörende Weise irreführend: „Die Hände meiner Mutter“ hätte eine Schnulze in den 50er-Jahren heißen können und Kitschromane mit diesem Titel gibt es garantiert schon Dutzende. Da werden Assoziationen von Geborgenheit und Elternliebe geweckt, aber hier hat er eine ganz andere Bedeutung: Der Protagonist des Films, aus dessen Perspektive hier zum größten Teil auch erzählt wird, erinnert sich plötzlich daran, dass er von seiner Mutter angefasst wurde. Und zwar nicht in einem mütterlich, liebevollen Sinne, sondern eindeutig sexuell.
Der alles verändernde Moment, an dem diese Erinnerungen über den fast vierzig Jahre alten Mann hereinbrechen, passiert gleich in den ersten Minuten des Films. Er ist einer der Söhne in einer großbürgerlichen Familie, die den Geburtstag des alten Patriarchen feiert. Dafür wurde ein ganzes Schiff gemietet, das auf der Weser fährt. Die meisten Bremer dürften schnell den Dampfer „Gräfin Emma“ von der Fährgesellschaft Hal Över erkennen, und wenig später dann auch den Vegesacker Anleger zum Restaurant „Strandlust“, in dem dann weitergefeiert wird.
Und auch auf einer anderen Ebene glaubt man den Beginn des Films schon zu kennen, denn eine Geschichte von Kindesmissbrauch in einer Unternehmerfamilie, die auf einem großen Fest offenbart wird, gab es schon einmal: In „Das Fest“ von Thomas Vinterberg, dem ersten Dogma-Film. „Die Hände meiner Mutter“ wirkt wie ein Gegenentwurf zu diesem Melodram, denn obwohl Eichinger den Film als seine Inspirationsquelle nennt, behandelt er das Thema ernsthafter und nuancierter als Vinterberg.
So gibt es bei Eichinger keinen großen Showdown vor der versammelten Verwandtschaft, durch den das Fest in „Das Fest“ ja schließlich in Grund und Boden gestampft wurde. Statt dessen arbeitet er in dem etwa 30 Minuten langen ersten Akt, der auf der Feier spielt, viel subtiler. Denn er erzählt hier davon, wie schnell und grundlegend der Ausbruch solch eines lange verdrängten Traumas einen Menschen verändern kann: Der Ingenieur Markus (Andreas Döhler) ist mit seiner Frau (Jessica Schwarz) und seinem vierjährigen Sohn auf der Feier. Als dieser von einem Gang mit seiner Großmutter (Katrin Pollitt) zur Toilette mit einer Schnittwunde am Kopf zurück kommt, weckt dies einen Verdacht und damit auch lange verschüttete Erinnerungen in Markus.
Plötzlich ist er wie ein Fremder unter seinen Verwandten, und dies macht Eichinger in einer Reihe von Szenen deutlich, in denen sein Protagonist langsam jeden Halt verliert. Dabei verzichtet er auf die gängigen dramaturgischen Kniffe, um die Geschichte zu dramatisieren: Markus erzählt alles seiner Frau, die es ihm sofort glaubt und ihn unterstützt. Die Mutter gibt die Taten zu, als er sie mit seinen Anschuldigungen konfrontiert. Es geht auch nicht darum, die gutbürgerliche Fassade zu wahren, sondern der Konflikt wird auf einer tieferen Ebene behandelt.
Für sein Drehbuch hat Eichinger intensiv über das Thema des sexuellen Missbrauchs durch Mütter recherchiert. Er hat lange mit Opfern und Psychologen gesprochen und konnte so jedes Klischee vermeiden. Die Mutter ist bei ihm keine boshafte Täterin, sondern eine im Laufe des Films immer verletzlicher wirkende Frau, die sich an ihrer Schuld abmüht. Und genauso komplex sind auch die anderen Filmfiguren gestaltet: der überforderte Vater, die Geschwister, Arbeitskollegen – und schließlich eine Reihe von Therapeuten, bei denen Markus Hilfe sucht.
Eichinger hat lebensnahe Szenen und Dialoge geschrieben und sie so inszeniert, dass sie fast dokumentarisch wirken. Um so erstaunlicher ist es, wenn bei einigen Rückblenden, in denen der Missbrauch zumindest ansatzweise gezeigt wird, der kleine Markus ebenfalls von dem Schauspieler Andreas Böhler verkörpert wird. Diese Szenen irritieren, weil in ihnen der Erwachsene immer ein wenig hilflos versucht, ein Kind zu spielen. Dadurch wird der Realitätsanspruch des Gezeigten untergraben. Doch ein Kinderdarsteller hätte in diesen Aufnahmen wohl noch mehr Probleme geschaffen, denn sie wären mit ihm nur schwer zu ertragen gewesen – und man hätte die Dreharbeiten einem Minderjährigen kaum zumuten können.
Die Idee für die dann realisierte Lösung, die eher ein Mittel des Theaters als des Film ist, stammt von Lars Eidinger, der ursprünglich für die Rolle des Markus vorgesehen war und berüchtigt dafür ist, dass er alles und jeden spielen will. Eichinger wollte die Rückblenden unbedingt im Film haben, weil das Thema des sexuellen Missbrauchs durch Mütter noch weit gehend unbekannt ist und er zumindest eine Ahnung davon vermitteln wollte, worin dieser bestehen könnte.
„Die Hände meiner Mutter“ ist der Abschluss einer Trilogie, in der Eichinger sich mit häuslicher Gewalt und ihren Folgen beschäftigt hat. Bei den früheren Filmen „Bergfest“ und „Nordstrand“ spielten die Drehorte die heimlichen Hauptrollen und man kann sich heute noch vor allem daran erinnern, dass der erste in einer Hütte in den Alpen und der zweite an der Küste von Norderney spielte.
Eichinger hat ein Talent dafür, seine Geschichten in einer Landschaft oder einem Milieu zu verorten und dann mit der Atmosphäre der gut ausgesuchten Drehorte zu arbeiten. In seinem neuen Film ist er immer noch ein neugieriger Reisender, wie schon die Luftaufnahmen zeigen, mit denen er jeweils eine Zäsur zwischen den einzelnen Kapiteln des Films setzt.
Aber inzwischen ist er auch zu einem Schauspieler-Regisseur gereift, der hier bis in die kleinsten Nebenrollen ein nahezu perfektes Ensemble zusammengesucht und dann sogar die Statisten dazu inspiriert hat, so natürlich und vielschichtig zu spielen, wie man es im deutschen Kino selten sieht.
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