Missbrauch bei den US-Turnerinnen: Erniedrigung mit System
Maggie Haney, Trainerin der US-Turnerinnen, wird wegen „verbalen und emotionalen Missbrauchs“ suspendiert. Klagen gab es schon vor vier Jahren.
W enn Laurie Hernandez auch nur einen kleinen Fehler machte, wurde sie von Maggie Haney angeschrien. Wenn sie verletzt war, musste sie trotzdem trainieren. Wenn sie ein paar Gramm zu viel auf die Waage brachte, erniedrigte sie ihre Trainerin vor den anderen Mädchen der Trainingsgruppe. Weinkrämpfe am Morgen und Panikattacken beim Anblick von Turngeräten gehörten zu ihrem Alltag.
Laurie Hernandez wurde Olympiasiegerin – trotz Maggie Haney. 2016 in Rio de Janeiro war sie 16 Jahre alt, die jüngste Turnerin der siegreichen und in der Heimat gefeierten US-Turnriege, dazu Silbermedaillengewinnerin am Schwebebalken. Die Medaillen brachten ihr Ruhm, Fernsehauftritte nicht nur in der Show „Dancing With The Stars“ und einen Verlag, der ihre Autobiografie veröffentlichte.
Aber das war nur Fassade: Laurie Hernandez war ein gebrochener Mensch, der bis heute mit Depressionen und Magersucht zu kämpfen hat. „Die Erfahrungen, die ich gemacht habe, werden niemals wirklich zu heilen sein“, schreibt die 19-Jährige in einem langen Instagram-Post, „aber meine Geschichte zu teilen gibt mir die Chance, das Kapitel abzuschließen, tief durchzuatmen und etwas neues zu beginnen.“
Schon vor vier Jahren versuchte Hernandez ihre Leidensgeschichte zu beenden. Nach Rio gab sie das Turnen auf und berichtete dem US-Turnverband von ihren Erfahrungen mit ihrer Heimtrainerin Haney, die auch Teil des Olympia-Trainerstabs war. Der Verband konnte sich nun, vier Jahre später, nach einer langen Untersuchung und einer einwöchigen Anhörung dazu durchringen, Maggie Haney wegen „verbalen und emotionalen Missbrauchs“ zu suspendieren. Acht Jahre lang darf die 42-Jährige keine Nationalkadermitglieder trainieren.
Klage gegen Suspendierung
Ob sie auch ihrem Job in dem Verein „MG Elite“ in New Jersey verliert, in dem sie neben Hernandez weitere Spitzenturnerinnen wie Riley McCusker, die 2018 mit dem US-Team Weltmeisterin wurde, betreut, ist noch nicht entschieden. „Ich hatte befürchtete, sie würden die Geschichte unter den Teppich kehren“, kommentierte Hernandez, die als Fünfjährige begann in New Jersey unter Haney zu trainieren und nach einem Comeback hoffte, sich für Tokio zu qualifizieren. „Ich kann kaum glauben, dass sie das Richtige getan haben.“
Haney hat bereits angekündigt, dass sie gegen die Suspendierung gerichtlich vorgehen will. Sollte es dazu kommen, könnte der Turnverband noch schlechter dastehen, als er es eh schon tut. Möglicherweise würde sich Haney darauf berufen, dass solche Trainingsmethoden weit verbreitet sind.
Das wiederum könnte zu einer Abrechnung mit dem ganzen System führen, das Béla und Martá Károlyi errichtet haben. Das rumänische Trainerehepaar, das in seiner Heimat die legendäre Nadia Comaneci ausgebildet hatte, führte nach seiner Flucht 1981 auch das darniederliegende US-Turnen an die Weltspitze – mit umstrittenen Methoden. Ehemalige Turnerinnen haben den Károlyis denselben „verbalen und emotionalen Missbrauch“ vorgeworfen, der Haney unterstellt wird. Rumänische Turnerinnen berichteten gar von Schlägen und anderen körperlichen Übergriffen.
Trotzdem gelten Béla und Martá Károlyi als Säulenheilige des US-Erfolgs. Die Skandale, die den Verband seit Jahren erschüttern, konnten ihrer Reputation kaum etwas anhaben. Obwohl der mittlerweile zu 175 Jahren Gefängnis verurteilte Larry Nassar unter ihrer Aufsicht als Teamarzt mindestens 250 Mädchen missbrauchte.
Obwohl Superstars wie die Olympiasiegerinnen Simone Biles und Aly Raisman von Missbrauch, unmenschlichem Druck, Depressionen und Bulimie berichteten. Obwohl Sponsoren ihre Zusammenarbeit aufgekündigt haben und Verbandspräsidentinnen wegen Vertuschung zurücktreten mussten. So eine „massive Vertuschung“ unterstellt Raisman dem Verband auch nach dem Haney-Urteil weiter und fordert eine unabhängige Untersuchung und die Offenlegung aller Dokumente. Die Suspendierung von Haney ist ein überfälliger, aber nur kleiner Schritt, systemische Missstände aufzuarbeiten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour