Missbrauch an der Odenwaldschule: "Es hat mich mein Leben gekostet"

Vor einem Jahr wurden die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule öffentlich. Aber was haben die Pädagogen ihren Schützlingen wirklich angetan? Ein Betroffener berichtet.

"Die Wahrheit ist, dass man uns als Kindern Gewalt angetan hat." Bild: gerhard64 / photocase.com

Ein Jahr ist es nun her, dass es gelang, aus dem Schweigen auszubrechen. Die sexuelle Gewalt an der Odenwaldschule wurde damals aufgedeckt. Aber nicht jeder hatte sich gewünscht zu reden. Für mich war schweigen nicht das Schlechteste. Das Schweigen verhinderte, wieder zurückgeschleudert zu werden in jene Momente, in denen ich nichts als Hilf- und Wehrlosigkeit empfand. Zu schweigen verhinderte auch, die vielen Sympathiebekundungen für die Täter erleben und ertragen zu müssen.

Die reformpädagogische Vorzeigeschule, an der wir 20 Jahre verführt und vergewaltigt wurden, hat gerade erklärt, "die Betroffenen erschweren durch ungerechtfertigte Anwürfe und Anfeindungen die Arbeit". Die Täter, das sollen also wir sein?

Opfer und Betroffene gelten wenig. Oft anerkennen wir uns ja selbst nicht als solche. Aber die Täter werden immer noch als originelle und einfühlsame Pädagogen beschrieben, deren segensreiche Elemente nicht ganz verschwiegen werden sollten. So sagen es Hartmut von Hentig und viele andere über ihren Freund Gerold Becker, jenen Mann, der so vielen Kindern schwersten Schaden zugefügt hat.

Und dann kamen also die Enthüllungen. Mehr und mehr Schreckliches trat ans Licht. Und bei jedem neuen Täternamen geschah dennoch immer das Gleiche. Es meldeten sich jene zu Wort, die es immer noch nicht glauben wollen. Sie sagen, "das kann doch nicht sein", sie denken, "das glaube ich nicht". Und jedes Mal steht das zum Mann gewordene Kind da und spürt die Ohnmacht vergangener Tage, spürt die Scham und das Gefühl, selbst schuld zu sein, als wäre es gestern gewesen. Und jedes Mal steht es da, fühlt sich als Lügner und Nestbeschmutzer, dem man vorwirft: "Du hast doch mitgemacht". Oder: "Es hat dir doch Spaß gemacht."

Lähmung macht sich breit, wenn jemand beinahe herausfordernd fragt: "Was ist eigentlich passiert?" Weil es einem unendlich schwerfällt zu beschreiben, was geschah - gegenüber Menschen, denen man nicht vertraut und von denen man nicht weiß, ob sie einem glauben. Immer noch muss ich Angst vor den Reaktionen haben. Auch deshalb das lange Schweigen.

Die Wahrheit ist, dass man uns als Kindern Gewalt angetan hat. Also denen, die doch das höchste Gut der Pädagogik sein sollen. Vor allem Reformpädagogen behaupten, dass sie "vom Kinde aus" denken. Aber sie taten es gar nicht. Nicht die Täter an der Odenwaldschule.

Jüngst las ich einen wohl gut gemeinten Beitrag: "Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Opfer ihren Frieden finden können." Seinen Frieden finden - das hört sich fast so an wie "Ruhe in Frieden". Aber es gibt keinen Frieden, niemals. Es ist eine nicht enden wollende Anspannung.

Als Betroffener fühlt man sich wie an einer Reckstange. Um mit den anderen Menschen mithalten und leben zu können, müssen Betroffene immer Klimmzüge machen. Schlimmer noch, ein von sexualisierter Gewalt Betroffener befindet sich dauernd im Zustand des gehaltenen Klimmzuges.

Die Klimmzugstange hat einen Namen: "Das normale Leben". Um "das normale Leben" immer auf Augenhöhe zu haben, muss der Betroffene ständig den Klimmzug auf der höchsten Position halten. Nur so kann er teilhaben. All das, was zum richtigen Leben gehört, tanzen, lachen, singen, klatschen, sich konzentriert am Kopf kratzen, charmant oder auch wütend zu sein, all das fällt schwer, wenn man sich die ganze Zeit in dieser Anspannung an der Reckstange halten muss. Manchmal wünscht man, sich loszulassen, für immer loszulassen.

Es wird uns nie loslassen, was geschehen ist. Aber was ist eigentlich geschehen? Was ist Missbrauch?

Ich stand als Zwölfjähriger im Duschraum eines der Häuser im Odenwald, als der von allen verehrte Schulleiter Gerold Becker hereinkam und sich neben mich unter die Dusche stellte. Nach einiger Zeit fing er an, mir zu zeigen, wie man sich das Glied richtig wäscht. Dabei kam er immer näher. Ich konnte nicht weiter zurück. Ich stand schon ganz in die Ecke gedrückt. Da ejakulierte er mir ans Bein.

Er hat mich nicht mal berührt.

Ist das Missbrauch?

Oder ist das etwa kein Missbrauch?

Mir fiel es schwer, noch geradeaus zu schauen. Jeder kannte das Kind, das ich war. Das Kind, das immer auf den Boden schaut, hieß es.

Das Kind will nicht mehr

Als Kind, das missbraucht wurde, versuchte ich in meiner zwangsläufig aufkommenden Einsamkeit Strategien zu entwickeln. Strategien zum Schutz des eigenen Seins. Diese einsamen Gedanken, wie ich der Gewalt Einhalt gebieten könnte "beim nächsten Mal", wie ich mich verhalten würde "beim nächsten Mal", wie ich mich wehren könnte "beim nächsten Mal", was ich sagen würde "beim nächsten Mal", diese Gedanken halfen mir. Sie ließen mich zwischendurch etwas aufrechter gehen - bis zum nächsten Mal.

Aber dann kommt es wieder zum Übergriff. Wieder ist es dem Kind nicht möglich, sich zu wehren, wieder ist es wie gelähmt, es wird erneut entwürdigt. Irgendwann entwirft das Kind keine Abwehrstrategien mehr. Es kann nicht mehr an sie glauben, es kann nicht mehr an sich glauben, es kann an überhaupt niemanden mehr glauben.

Max ist 50 und war in den 1960er und 70er Jahren Schüler der Odenwaldschule. Max hat dort sexuelle Gewalt erlebt. Das hat sein Leben geprägt. Er ist nicht der einzige - der Verein "Glasbrechen" geht von 300 bis 400 Betroffenen allein an dem ehemaligen Vorzeigeinternat aus. Nach Lehre und Weiterbildung arbeitet Max heute als technischer Angestellter. Max ist nicht sein richtiger Vorname, er will anonym bleiben.

Das Kind kann nicht mehr, nein, es will nicht mehr aufrecht gehen.

Aus dieser Erfahrung wuchs ein Misstrauen, ein Misstrauen gegen sich und gegen alle Menschen. Glaube niemanden! Glaube auch dir selbst nicht! Trau den eigenen Gedanken nicht mehr, die dir glaubhaft gemacht hatten, wie man das nächste Mal diesem Geschehen entgehen könnte.

Für das missbrauchte Kind werden danach schon kleinste Obszönitäten, Andeutungen oder Kränkungen eines Erwachsenen zu einer Katastrophe.

Wenn dir der Lehrer an den Arsch fasst, der irgendwann schon deinen Kinderschwanz im Mund hatte, dann denkst du: "Jetzt ist es wieder so weit, jetzt passiert es wieder."

Ich bin als Letzter noch im Klassenzimmer mit dem Lehrer. Zwischen mir und dem Lehrer steht, was ich nicht einordnen kann, was aber eklig ist. Und dann grabscht er wieder. In aller Öffentlichkeit. "Was mach ich bloß, was mach ich denn bloß?" Und wieder dieses Gefühl, gelähmt zu sein. Der Lehrer geht wieder. Nichts weiter ist passiert - außer dem Griff an den Arsch. Nichts weiter ist passiert - außer Augenblicken qualvoller Angst. Und in der nächsten Stunde soll ich wieder das große Einmaleins lernen. Aber ich kann nicht an die Tafel schauen, denn da steht das Ekel, das anscheinend machen kann, was es will.

Wenn ich es heute erzähle, sagen die Leute manchmal: "Oh, er hat dir doch nur an den Popo gelangt!" Aber das hat mich mein Leben gekostet. Eines, das ich hätte führen können.

Denn das Kind kommt da nicht mehr raus. Es zweifelt immer mehr an sich. Und das zum Mann gewordene Kind beginnt seine erlebte Geschichte in Frage zu stellen. War das ein deutlicher Übergriff, und das andere eher nur eine Bagatelle? Später wird er nicht mehr sagen können: Dies war ein sexueller Missbrauch und jenes war, auch wenn es noch so erniedrigend erschien, nur eine Grenzüberschreitung. Ohne Berührung. Das führt zu dem Gefühl: "Selbst schuld, wenn du so empfindlich bist!"

Suizid als Hoffnung

Nach und nach wurde mir die Bedeutung meiner Erlebnisse bewusst. Ich begriff, dass meine Kindheit und Jugendzeit gar nicht existiert hatten. Ich hatte nach allem gegriffen, was mich betäubte. Ich habe meine Sozialisation im Rausch erlebt. Noch heute bin ich mir fremd. Ich kann mein eigenes Ich nur schwer erkennen. Oft war mein letzter Tröster der Gedanke an den Suizid, er war meine Hoffnung, mein Angstnehmer, sollte es nicht mehr ertragbar sein.

Seit einem Jahr wird nun nicht mehr geschwiegen. Heute helfen diejenigen, die Mitgefühl zeigen, die glauben und versuchen zu verstehen. Durch sie kann ich mehr und mehr jene ignorieren, die keine Helfer sind, die uns bis jetzt nicht zuhören und nicht glauben, die das Leben noch schwieriger machen, als es schon ist: die Schweiger, Vertuscher und Mitwisser. Auch jene, die ihre Unfähigkeit zu handeln uns zum Vorwurf machen.

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